Vom Facharbeitersohn zum Siemens-Chef: Ein seltener Ausnahmefall
Einer der mächtigsten deutschen Wirtschaftsmanager, der seit Januar im Amt stehende Siemens-Vorstandsvorsitzende Klaus Kleinfeld, kommt aus einer Facharbeiterfamilie. Damit ist er unter den hiesigen Konzernchefs eine große Ausnahme. Denn laut einer Studie der Universität Dortmund entstammen 80 Prozent der Führungselite dem gehobenen Bürgertum, das nur 3,5 Prozent der Bevölkerung stellt.
In der Eckkneipe "Fofftein" ist die Luft schon am Nachmittag qualmgeschwängert. An der Theke sitzen vier Männer und knobeln mit dem Wirt. "Klaus Kleinfeld? Der Name sagt mir nichts", meint ein arbeitsloser Hafenvorarbeiter. Auch seine Trinkgenossen kennen ihn nicht, den vielleicht einflussreichsten Sohn ihres Stadtviertels, und sie interessieren sich auch nicht groß für ihn. Nur der Wirt staunt ein bisschen, "dass sogar was Positives aus diesem Kaff kommt!"
Das Kaff hat 14.000 Einwohner, heißt Bremen-Woltmershausen und wird doch meist nur "Pusdorf" genannt. Vielleicht, weil hier, auf der linken Weserseite schräg gegenüber der Innenstadt, der Wind so scharf durch die langgezogene Hauptstraße pustet, oder aber, weil hier mal ein Großbauer Poos lebte.
"Pusdorf" hat seine Blütezeit längst hinter sich. Als hier im November 1957 das Ehepaar Kleinfeld seinen einzigen Sohn bekam, da war Woltmershausen noch ein lebendiges Arbeiter- und Werftenviertel. Größtes Unternehmen war die Tabakfabrik Brinkmann (Marke "HB"), und es gab hier mehrere Werften. Eine Fähre pendelte zum anderen Weserufer, wo einst die Großwerft "AG Weser" stand und die Stückguthäfen florierten - bis der Container kam. "Jetzt machen das alles Maschinen", sagt der arbeitslose Hafenvorarbeiter im "Fofftein" (Plattdeutsch für 15-minütige Arbeitspause). Und die Tabakfabrik hat 1984 nach West-Berlin rübergemacht, wegen der Subventionen.
In diesem Umfeld also wuchs Klaus Kleinfeld auf, in einer Nebenstraße mit Blick auf den Friedhof. Seine verwitwete Mutter wohnt noch heute in dem schmucklosen 50er-Jahre-Mietsblock. Vater Kleinfeld war in Kriegsgefangenschaft und musste sich nach seiner Rückkehr eine neue Existenz aufbauen, gemeinsam mit seiner aus der DDR geflohenen Ehefrau. "Wir haben buchstäblich mit der Apfelsinenkiste neu angefangen. Wir mussten die Zähne zusammenbeißen und jeden Pfennig umdrehen", erzählte die mittlerweile 82-Jährige vor einiger Zeit dem "Manager-Magazin" (Titel: "Der Wunderknabe"). Und dass ihr Sohn auch bei Erkältung oder Bauchschmerzen zur Schule musste: "Faulenzen gab es nicht."
Vater Kleinfeld war, wie später sein Sohn, ein Aufsteiger, wenn auch in bescheidenerem Ausmaß: Als Facharbeiter, der sich nebenbei ein paar Mark extra als Hilfskraft im Hafen verdiente, besuchte er Abendkurse und ließ sich so zum Ingenieur fortbilden. Als sein Sohn gerade zehn Jahre alt war, starb der Vater plötzlich. Mit zwölf Jahren musste Klaus mithelfen, das Familieneinkommen aufzubessern, zum Beispiel mit Jobs im Supermarkt. Ob diese frühe Konfrontation mit Tod und Überleben dazu beigetragen hat, ihn für seine Karriere fit zu machen?
Der Eliteforscher Michael Hartmann von der TU Darmstadt hält Kleinfeld für eine "absolute Ausnahme". "Von den Vorstandsvorsitzenden der 100 größten deutschen Unternehmen stammen vier Fünftel aus dem gehobenen Bürgertum", berichtet der Soziologieprofessor. Ihr Vater sei entweder schon selber Firmenchef gewesen oder komme aus einem Adelshaus (wie Kleinfelds Vorgänger Heinrich von Pierer) oder sei zumindest Richter oder Chefredakteur. Aufgewachsen seien sie in einem Milieu, das ihnen eine selbstverständliche Vertrautheit mit jenen Anforderungen vermittele, wie sie von Spitzenmanagern gefordert würden. "Die Leistungen, die sie bringen, könnten auch andere bieten", sagt Hartmann. "Aber was sie unterscheidet, ist der Habitus, der Stallgeruch."
Bewerber aus unteren Schichten haben nach Ansicht des Soziologen das "Handikap der falschen Geburt". "Und das lässt sich in der Regel nicht wettmachen" - schon gar nicht im deutschen Bildungssystem, das die frühkindliche Förderung vor allem den Familien überlasse und das Schüler schon nach wenigen Jahren "massiv aussiebt". Bei Kleinfeld war das anders. Der ehemalige Klassenlehrer stellt ihm auch heute noch ein druckreifes Zeugnis aus: "Er hat alle Aufgaben, die ihm gestellt wurden, gewissenhaft ausgeführt. Aber er war kein Strebertyp."
Soziologe Hartmann kennt den neuen Siemens-Chef nicht persönlich. Aber als Eliteforscher weiß er einiges über den Typus des Aufsteigers. "Das sind meist Leute, die sich von unten hochgekämpft haben - ein härteres Kaliber also. Sie glauben, jeder kann es schaffen und nehmen deshalb weniger Rücksicht auf Leute, die es nicht so geschafft haben." Und diese "gewisse Härte" komme manchen Unternehmen gerade recht, wenn sie rationalisieren wollten und dafür einen "harten Macher" bräuchten, glaubt Hartmann. Ähnlich sei es beim Daimler-Konzern gelaufen: Der 1995 eingesetzte neue Vorstandschef Jürgen Schrempp sei ebenfalls ein Aufsteiger gewesen (sein Vater war ein kleiner Verwaltungsangestellter) und habe auf seinem neuen Posten "zu Anfang relativ viel aufgemischt".
Nur eine Phase gab es, in der es Bewerber aus unteren Schichten leichter hatten: In den 1960er-Jahren herrschten laut Hartmann "goldene Zeiten", weil sehr viele Führungspositionen besetzt werden mussten und nicht so viele Bewerber Schlange standen. "Wo die Konkurrenzlage nicht besonders scharf ist, gibt es größere Chancen, von unten reinzukommen", meint der Darmstädter Professor.
Sein Kollege Harry Friebel von der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik erinnert daran, dass "in den 60er- und 70er-Jahren die Aufstiegswege weniger akademisch gezimmert waren". Heute sei die "Abgrenzung nach unten" schärfer - außer bei Politik, Fußball und Kirche: "Da gibt es tolle Aufstiegsmöglichkeiten"; Gerhard Schröder, Sohn einer Putzfrau, ist das prominenteste Beispiel. In der Politik, so ergänzt Hartmann, gelte immer noch die "Ochsentour" ("wenn auch mit abnehmender Bedeutung"), und beim langen Weg durch die Gremien einer Partei könne es sogar sehr wohl von Vorteil sein, wenn sich der Politiker im Habitus nicht zu weit von der entfernt habe.
Genau wie Hartmann fordert auch Friebel, die Förderung von Kleinkindern nicht überwiegend den Familien zu überlassen und das dreigliedrige Schulsystem zu Gunsten der Gesamtschule zu ersetzen. Aber dass man allein durch Bildung zu höchsten Wirtschaftsposten aufsteigen könnte, ist für Professor Friebel eine Illusion. Denn in den Chefetagen müsse man in der Regel "gewisse Oberschicht-Standards erfüllen", "damit man dazugehört". Der Siemens-Boss sei da nur "die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt".
Zurück nach Woltmershausen. Auch wenn dort kaum jemand den Aufsteiger kennt - Wünsche hat manch Einheimischer durchaus an ihn: Joachim Fischer, Aktionskünstler und Aktivist der "Pusdorfer Friedensgruppe", hofft, das der neue Siemens-Chef "endlich mal anfängt, mit den ganzen Rüstungsgeschäften Schluss zu machen. Das ist mein Wunsch von Pusdorfer zu Pusdorfer." Und auch die Männer im "Fofftein" könnten sich bei dem Weltkonzern manches anders vorstellen. "Die sollen nicht nur auf ihre Profite sehen!", fordert der arbeitslose Hafenarbeiter. Sein spezieller Wunsch an den neuen Konzernchef: "Er soll seine Leute nicht vergessen."