Die Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois pfeift aus dem letzten Loch
Die Nationalstraße Nummer 3 schraubt sich sanft die kleine Anhöhe hinauf, führt vorbei an bescheidenen Eigenheimen und Hochhaussiedlungen, die zwar dicht gedrängt stehen, aber noch mit Sinn für Proportionen geplant waren. "Herrliche Umgebung - Natur, Blumen und Bäume bestimmen den Rhythmus des Lebens in La Forestière." So blumig warben in den 60er-Jahren die Verkaufsprospekte für die Wohnungen in der Neubausiedlung La Forestière von Clichy-sous-Bois im Pariser Osten. Adressaten waren vor allem gut verdienende Pariser Angestellte, die sich zumindest am Wochenende in ihrem Zweitwohnsitz ein wenig frische Luft um die Nase wehen lassen wollten. Der Wald von Bondy lag vor der Haustür. Im Foyer der schicken Lobby stand ein Aquarium. Und im Treppenhaus lag sogar Teppichboden. Doch gut 30 Jahre später ist von der alten Pracht tatsächlich nur noch der Wald übrig geblieben. Das Aquarium, der Teppichboden sind längst den Weg alles Weltlichen gegangen. Und auch die einst stolzen Besitzer der Appartements haben längst die Flucht ergriffen. Freiwillig wohnt hier heute niemand mehr.
La Forestière und die Cité des Bosquets, ein Ghetto für 17.000 Menschen auf der anderen Seite der Anhöhe, sind nur noch ein Schatten besserer Tage. Über und über sind die Wände der Siedlungen mit Graffitis beschmiert, die Haustüren sind eingeschlagen, die Briefkästen kaputt. Was in den dunklen Kellern passiert, will man besser nicht wissen. Selbst der Asphalt auf der Straße ist rissig. Das nächste Geschäft ist weit weg. Dabei sieht es heute sogar noch besser aus als vor zehn Jahren. Damals flogen die Mülltüten direkt aus den Fenstern auf die Straße. Und auf den Fluren in den Häusern stapelten sich kaputte Kühlschränke und alte, durchgelegene Matratzen.
Als Joseph Berreby seinen Job in La Forestière anfing, "haben wir gemeinsam mit den Bewohnern erst einmal alles sauber gemacht". Berreby steht einem Nachbarschaftsverein vor, den die Stadt und ein Kinderschutzverein schon vor Jahren gemeinsam ins Leben gerufen haben. Das Vereinslokal im Erdgeschoss ist längst die zentrale Anlaufstelle für die 2.500 Einwohner der Siedlung, wenn es irgendwo klemmt. Und das kommt häufig vor.
La Forestière, das in Problemen ertrinkt, ist keine Siedlung des staatlichen sozialen Wohnungsbaus, erhält deshalb auch keine öffentlichen Mittel. Nur ohnmächtig kann der sozialistische Bürgermeister Claude Dilain zuschauen, wie der einstige Stolz der Gemeinde im Grünen immer weiter verfällt. Denn seit Jahren wird die verkommene Siedlung dafür genutzt, die Ärmsten der Armen aus dem Pariser Großraum aufzunehmen, die sogar noch zu wenig verdienen, um die vergleichsweise moderate Miete einer staatlichen Sozialbauwohnung zu bezahlen. Auf den Etagen von La Forestière lebt die ganze arme Welt - geflüchtete Kurden, verfolgte assyrische Chaldäer, Türken, Maghrebiner, Menschen aus Mali, dem Senegal. Viel zu viele Menschen, Alte und Junge, leben in den kleinen Appartements, zahlen Miete an dubiose Besitzer, die es sich von ihren Mietern Monat für Monat teuer bezahlen lassen, keine Bürgen und Mietkautionen stellen zu müssen.
Monsieur Dilain indes sind die Hände gebunden, an diesen beklagenswerten Zuständen in diesem Ghetto der Hoffnungslosigkeit etwas zu ändern. Ohnehin hat er auch in krawallfreien Zeiten genügend Feuer in seiner Gemeinde zu löschen. Clichy-sous-Bois, wo der traurige Unfalltod zweier Jungs aus der Nachbarschaft die ersten schweren Unruhen ausgelöst hatte, die in den folgenden zwei Wochen wie ein Flächenbrand über ganz Frankreich hinweg fegten,
ist - man kann das nicht anders sagen - eine bettelarme Stadt, die aus dem letzten Loch pfeift. 50 Prozent der 28.000 Einwohner sind jünger als 25. Und ebenso hoch liegt die offizielle Arbeitslosigkeit in dieser Pariser Vorstadt im Departement Seine-Saint-Denis. Viele Jugendliche lungern herum. Wer einen Job hat, nimmt stundenlange Anfahrtszeiten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz in Kauf. 560 Euro verdient Arab ben etwa, ein 50-jähriger Algerier, für einen Halbtagsjob als Lagerist in einem Nachbardepartement. 150 Euro gingen Monat für Monat allein für das Benzin drauf, erzählt er. In der letzten Woche brannte auch sein Auto. Es war nicht versichert. Mit dem Bus ist sein Arbeitsplatz nicht zu erreichen.
Ein Drittel aller Haushalte in Clichy stammt aus aller Herren Länder. Um gleich 40 Prozent liegt das Steueraufkommen der Gemeinde unter vergleichbar großen französischen Städten. Mühe hat die Stadt, ihre alternden Sportanlagen zu unterhalten. Das städtische Bauschild auf der Anhöhe zwischen den beiden Problemsiedlungen La Forestière und der Cité des Bos-quets ist eine Ausnahme: "Hier investieren wir in ihre Zukunft", verspricht die Stadt, die mit staatlichen Zuschüssen ein "Haus der Jugend" bauen lässt. Ohne die engagierte Arbeit der vielen Ehrenamtlichen in den zahlreichen Vereinen wäre die Stimmung in Clichy vielleicht schon viel früher gekippt. "Das hat uns zumindest geholfen, über lange Zeit eine relative Ruhe zu behalten", sagt eine Jugendbetreuerin in einem Sozialzentrum. Bürgermeister Dilain rechnet derweil vor, dass Paris allein 35 Stellen für so genannte Nachbarschaftspolizisten gestrichen habe. "Das heißt zwar nicht, dass es mit den Polizisten nicht zu den Auseinandersetzungen gekommen wäre", sagt der Bürgermeister. "Aber die jungen Polizisten hatten es gleichwohl geschafft, ein Klima des Vertrauens mit unseren Bürgern herzustellen."
Dabei ist es keineswegs so, dass Clichy-sous-Bois völlig aus dem Fokus der Pariser Politik geraten ist. Mehr noch: Seit zehn Jahren haben sämtliche Städtebau-Minister von links und rechts der geplagten Stadt ihre Aufwartung gemacht, haben Programme aufgelegt, die freilich bislang nur bedrucktes Papier blieben. Diesmal aber soll die Wende wirklich kommen. 330 Millionen Euro sollen in den nächsten Jahren allein nach Clichy fließen, um 1.600 der schlimmsten Getto-Wohnungen abzureißen. 1.900 Wohnungen sollen neu gebaut werden. Ein wenig bedauert der Bürgermeister, dass von diesem Geld nichts in das Viertel Chêne pointu fließt, wo die Krawalle ihren Ausgang nahmen. Auch dort wäre Stadterneuerung dringend nötig.
Viele Nachbarn verbinden Hoffnungen mit dem Großprojekt, setzen darüber hinaus auch darauf, dass bald auch wieder Mittel für die Vereinsarbeit fließen. Paris hatte das den vernachlässigten Vorstädten zumindest versprochen und 100 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Ganz ungeteilt ist die Freude, dass nach Jahren der Agonie neuer Aufbruch bevorsteht, indes nicht. Die Ärmsten der Armen in La Forestière, hat Joseph Berreby bei seinen Sprechstunden schon festgestellt, fürchteten, dass ihnen bei der bevorstehenden Runderneuerung das Dach über dem Kopf wegsaniert wird und ihnen dann am Ende nur noch die Straße bleibt.