Der niedersächsische und der sachsen-anhaltinische Teil des Harzes vor der Fusion zu einem länderübergreifenden Nationalpark
Es sind die kleinen Dinge, die Henning Möller in Entzücken versetzen. Junge Fichtentriebe, die aus einem vermoderten Baumstamm herauswachsen, Buchen, die sich auf kleinen Lichtungen im dichten Nadelwald behaupten oder auch Ebereschen, die wieder dort ihren Platz gefunden haben, wo Jahrhunderte lang gewerbsmäßig Fichten angebaut wurden. "Das ist Dynamik, das ist Entwicklung, da ist Bewegung drin", sagt Henning Möller dann. Ganz so, als könnte der Chefranger des Nationalparks Hochharz Bäume wachsen sehen.
Kann er natürlich nicht. Aber seit vielen Jahren kann er beobachten, wie sich die Natur im Harz verändert, wenn diese sich selbst überlassen wird, wenn der gewerbsmäßige Holzanbau eingestellt, der Borkenkäfer nicht mehr bekämpft wird und Förster allenfalls an der einen oder anderen Stelle ein bisschen nachhelfen, damit die ursprüngliche Flora und Fauna wieder zurück-kehrt. Der Hochharz in Sachsen-Anhalt ist Entwick-lungsnationalpark. In den kommenden 30 Jahren soll auf 75 Prozent seiner Fläche unberührte Natur zurückkehren, sollen sich Moore und der Brocken-Urwald mit ihrer Tundravegetation wieder ausdehnen.
Doch es gehört zu den Folgen der deutschen Teilung und des bundesdeutschen Föderalismus, dass sich der Nationalpark Harz im benachbarten Niedersachsen dasselbe Ziel gesetzt hat: Mit einer eigenen Verwaltung, eigenen Rangern und eigenen Wanderkarten. Dort, wo 50 Jahre der Eiserne Vorhang verlief, ist bis heute die Grenze zwischen dem niedersächsischen Nationalpark Harz und dem sachsen-anhaltinischen Nationalpark Hochharz markiert.
Das soll sich jetzt ändern. Zum Jahresende wollen die beiden Nationalparks fusionieren, nur ist dies gar nicht so einfach. Der Festakt, der ursprünglich am 3. Dezember stattfinden sollte, wurde in den Februar verschoben, obwohl Bundespräsident Horst Köhler bereits eingeladen war. Bis zum letzten Moment arbeiten Experten der Landesregierungen in Hannover und Magdeburg an Gesetzestexten und am Staatsvertrag. "Die Fusion ist ein Symbolprojekt für die deutsche Einheit", betont der Vorsitzende des Fördervereins Nationalpark Harz, Friedhart Knolle.
Die Geschichte des Nationalparks Harz begann vor 16 Jahren. Am 3. Dezember 1989 erzwangen Wanderer aus Ost und West den Zugang zu dem Horchposten der Sowjetarmee auf der Kuppe des 1.141 Meter hohen Brocken. An jenem kalten und windigen Wintertag wurde aus dem Symbol der deutschen Teilung ein Symbol der Wiedervereinigung. Zäune wurden niedergerissen, alte Wanderwege neu erkundet, und die Sowjetsoldaten servierten dazu heißen Tee. Zehn Monate später erklärte die letzte DDR-Regierung das Gebiet rund um den höchsten Berg des Harzes zum Nationalpark.
Doch die Fusion ist nicht nur ein Symbol, sondern auch ein Experiment. Die Ost-West-Gegensätze im Harz sind groß. Im Kampf um die Harztouristen sind Ost und West erbitterte Konkurrenten. Knapp 1,8 Millionen Besucher übernachteten im Jahr 2004 im Harz, bislang fast 60 Prozent im Westteil, obwohl dieser nur etwa ein Drittel des Gebirges umfasst und die Infrastruktur im Ostharz mittlerweile Westniveau hat. Mehr noch. Viele Hotels sind moderner, dank der staatlichen Fördergelder ist die Spaßbad-Dichte größer. Mit großer Sorge beobachten die Niedersachsen nun, dass die Zahl der Besucher in ihrem Teil des Harzes sinkt, im Ostteil nach dem vereinigungsbedingten Einbruch hingegen wieder zunimmt. Manch ein Harzer nennt das Grüne Band, das im Harz an die Stelle des Eisernen Vorhanges getreten ist, deshalb gar eine "Neidgrenze".
Zehn Jahre lang wurde über die Fusion der beiden Nationalparks gestritten. Lange konnten sich die beiden Länder beispielsweise nicht darauf einigen, wo die Verwaltung des Parks untergebracht wird. Am Ende setzte sich mit Wernigerode der Osten durch. Dafür darf Niedersachsen den Leiter des Nationalparks stellen. "Es gab Vorurteile in Ost und West", räumt der Leiter des fusionierten Nationalparks, Andreas Pusch, ein, aber er fügt hinzu: "Wir sind uns viel näher, als wir dachten." Das wird sich noch zeigen, schließlich müssen viele Ost-West-Gegensätze erst noch überwunden werden, angefangen bei der Strategie. Während die Sachsen-Anhaltiner einen behutsamen Weg der Renaturierung gewählt haben, greifen die Niedersachsen intensiv in diesen Prozess ein. "Naturschutz in den alten Ländern bedeutet, aktiv etwas tun. Dort sagt man, wir machen ein Biotop", erklärt der stellvertretende Nationalparkleiter, Hans-Ulrich Kison.
Im Osten hingegen lasse man es eher laufen, "auch wenn es etwas länger dauert". Doch die unterschiedlichen Strategien liegen auch darin begründet, dass der Harz im Westen vor der Wende intensiv touristisch genutzt wurde, viele Wanderwege ausgebaut wurden. Der Brocken in der DDR hingegen war militärisches Sperrgebiet und der Wald darin weitgehend sich selbst überlassen. Hinzu kommt, dass im niedersächsischen Nationalpark weiterhin Holz vermarktet wird und die Einnahmen im Landeshaushalt eingeplant sind. Selbst die Jagdtechniken sind unterschiedlich. Im Osten wird das Wild bei der Jagd getrieben, im Westen wird von Hochsitzen aus gejagt.
Dabei sind beide Parks eine Erfolgsgeschichte. Ohne Beteiligung der Öffentlichkeit hatte die letzte DDR-Regierung die Einrichtung des Nationalparks 1990 beschlossen. Viele Gemeinden im Ostharz träumten damals jedoch nicht von Biotopen an den Brockenhängen, sondern von Skipisten. Die niedersächsische Landesregierung dagegen führte zwar eine mehrjährige Bürgerbeteiligung durch, dennoch musste sie die Einrichtung des Nationalparks gegen den Protest von Harz-Bewohnern und Tourismusmanagern durchsetzen. Diese befürchteten, "Ökospinner" könnten Wanderwege sperren, sich mehr um Borkenkäfer kümmern als um die Menschen und so Touristen verschrecken. "Die Akzeptanz des Nationalparks war gleich Null", erinnert sich Friedhart Knolle. Das ist mittlerweile anders. Einer Umfrage des Harzer Verkehrsverbundes zufolge kommen 93 Prozent der Besucher wegen der Natur in den Harz, für 41 Prozent spielen dabei die beiden Nationalparks eine besondere Rolle. Zehn Millionen Gäste besuchen jährlich die Nationalparkregion, Hauptanziehungspunkt ist der Brocken, dessen Gipfel jährlich etwa zwei Millionen Besucher erklimmen, entweder zu Fuß oder mit der dampfenden Harzer Schmalspurbahn. Oben auf dem Gipfel erinnert nicht mehr viel an den Kalten Krieg: Die hohe Mauer rund um die natürlich waldfreie Brockenkuppe wurde abgerissen. Wo einst Militärbaracken standen, wächst wieder Heide, in der früheren Stasi-Abhörzentrale befindet sich heute eine Ausstellung über den Nationalpark.
Ab Januar gehört das Besucherzentrum nicht nur zum größten Waldnationalpark in Deutschland, sondern es entsteht auch der erste länderübergreifende Nationalpark. Wenn es denn den beiden Ländern gelingt, auf der Zielgeraden die letzten juristischen Probleme aus dem Weg zu räumen. Der Föderalismus macht es nicht einfach, beide Parks zusammenzulegen. Das fängt mit so praktischen Sachen wie dem Dienstrecht oder der Software an, die beide in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen unterschiedlich sind. So muss beispielsweise geregelt werden, dass niedersächsische Beamte auch an den Dienstort Wernigerode in Sachsen-Anhalt versetzt werden dürfen. Den Rangern, die weiter entweder in Niedersachsen oder Sachsen-Anhalt beschäftigt sein werden, muss erlaubt werden, auch im jeweils anderen Bundesland Touristen zur Ordnung zu rufen oder Bußgelder zu verhängen. Ein zweiter Staatsvertrag muss deshalb her. In einem ersten Staatsvertrag zur Fusion der beiden Nationalparks, der von beiden Ländern im August 2004 unterzeichnet worden war, hatten die Juristen solche Spitzfindigkeiten des Föderalismus nicht bedacht.
Den Luchsen sind die genauso egal wie Ländergrenzen. Die größte Wildkatze Europas gehört zu den Gewinnern des Nationalparks Harz. Bis vor fünf Jahren war der Luchs im Harz ausgestorben, jetzt sind etwa 15 dieser Raubkatzen mit den markanten Pinselohren erfolgreich ausgewildert worden. Nur einen Luchs hielt es nicht im Harz, er ist mittlerweile in den Naturpark Solling weitergewandert.