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Enquete-Kommissionen:
Wenn der Bundestag etwas ganz genau wissen will ...
Das Gefühl kennt jeder: Gerade kommt man leider wieder nicht dazu, aber im Grunde müsste man über die Sache nachdenken und sie grundsätzlich erörtern ... Ständiges Vertagen nach diesem Muster kann sich ein Parlament nicht leisten, wenn es mit seinen Beschlüssen nicht nur Feuerwehr spielen und auf aktuelle Erscheinungen reagieren will. Weil aktives und weitsichtiges Gestalten aber den Überblick voraussetzt, ist im Alltag der Bundestags-arbeit schon seit langem eine Antwort auf die "Man-müsste-mal"-Gefühle gefunden worden. Die Antwort heißt "Enquete-Kommissionen" und bedeutet den Blick des Bundestages über die Tagespolitik hinaus.
Der Begriff "Enquete" hat seinen Ursprung im Lateinischen (inquirere = nachforschen, prüfen, untersuchen) und bedeutet so viel wie "amtliche Untersuchung". Der gedachte Ablauf für ein solches Verfahren: Mindestens ein Viertel aller Abgeordneten sieht die Notwendigkeit, dass ein Sachverhalt einmal gründlich und genau untersucht werden müsste. Zum Beispiel, wie sich das ständig zunehmende Durchschnittsalter der Bevölkerung auswirkt – auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge, auf die Bedürfnisse des Einzelnen, auf die Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme. Damit einher geht sofort die Frage, wo die bestehenden Gesetze besonders gefordert sind, wo sich Lücken oder Engpässe ergeben oder wo die Vorhersagen für die künftige Entwicklung ein völliges Umdenken erfordern können. Wichtige Enquete-Fragestellungen richteten sich in der Vergangenheit unter anderem auf die Verfassungsreform, die Kernenergie, den Jugendprotest, die Gentechnologie, AIDS, den Umweltschutz oder die Bildung.
Es läge nahe, die Fragen zu formulieren und einige wissenschaftliche Institute mit dem Erstellen von Gutachten zu beauftragen. Doch wer weiß schon zu Beginn der Untersuchungen, auf welche Zwischenergebnisse man stoßen wird und ob aus der Sicht der parlamentarischen Praktiker nicht zusätzliche, neue Fragen dringend mit beantwortet werden müssen? Aber auch der andere Weg – Abgeordnete in einem Gremium mit den Untersuchungen zu beauftragen und sie von Zeit zu Zeit wissenschaftlichen Sachverstand heranziehen zu lassen – hat seine Tücken. Abgeordnete könnten alles streng unter den intern gerade wichtigen Fragestellungen betrachten. Der unkonventionelle Blick von außen und aus anderen, vielleicht später wichtigeren Richtungen könnte leicht vernachlässigt werden.
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Themen von Enquete-Kommissionen: so genannte Sekten und
Psychogruppen Eine Kommisssion von 1994-1998. |
Die besondere Bedeutung der Enquete-Kommissionen liegt in ihrer Verknüpfung von parlamentarischer, wissenschaftlicher und praktischer Erfahrung: Abgeordnete und Sachverständige arbeiten in ihnen als gleichberechtigte Mitglieder zusammen. So können sie sich mit ihren jeweils unterschiedlichen Interessen, Herangehensweisen, Fragestellungen, Vorstellungen und Vermutungen gegenseitig anregen. Ihr formaler Auftrag: Sie sollen Entscheidungen über "umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe" vorbereiten. So steht es in Paragraph 56 der Bundestags-Geschäftsordnung. Hier ist auch das Ziel fixiert: Ein Bericht soll erstellt und so rechtzeitig vorgelegt werden, dass das Plenum noch vor dem Ende der Wahlperiode darüber diskutieren kann.
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Das bedeutet: Der Zeitdruck aus dem eher kurzatmigen Tagesgeschäft ist gemildert. Doch die Erwartungen sind so hoch, dass sich trotzdem nichts auf die lange Bank schieben lässt. Die Enquete-Kommission, die in der letzten Wahlperiode den Dimensionen der Medien- und Informationsgesellschaft nachspüren sollte, tagte beispielsweise 46 Mal in zweieinhalb Jahren, also praktisch in jeder zweiten Woche. Und darin sind nicht einmal die Anhörungen weiterer Experten, die Besprechungen in Arbeitsgruppen oder die Zusammenkünfte in speziellen Workshops enthalten. Wer sich die stets überquellenden Terminkalender von viel gefragten Abgeordneten und Top-Wissenschaftlern vor Augen hält, kann ermessen, welche Koordinierungsleistung hinter den Kulissen zu vollbringen ist, damit das Projekt vorankommt.
Bei der neuen Enquete-Kommission zu den Herausforderungen und Chancen der zunehmenden Globalisierung wird diese Arbeit etwa von einem Leiter des Sekretariats, einem Referenten, zwei Sekretärinnen und fünf wissenschaftlichen Mitarbeitern geleistet. Sie erstellen außerdem Protokolle, schaffen Materialien herbei, ermitteln zusammen mit den Ausschussmitgliedern erfahrene Fachleute für Spezialbereiche, bereiten Sitzungen vor und organisieren die Veröffentlichung von Teil-, Zwischen- und Abschlussberichten. Die Enquete-Berichte werden in Auflagen von nicht selten 10.000 oder gar 15.000 Exemplaren hergestellt und sind doch oftmals schnell vergriffen. So viel Interesse hätte mancher sicher nicht vermutet. Und immer machen Bundestagspräsident und Kommissionsvorsitzende bei der Suche nach geeigneten Wissenschaftlern die gute Erfahrung, dass trotz erheblicher zeitlicher Beanspruchung die Einladung des Parlamentes zur Mitarbeit von fast allen Angesprochenen als Auszeichnung empfunden wird.
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Themen von Enquete-Kommissionen: Die Auswirkungen des Demographischen Wandels - Drei Kommissionen von 1990-1994, 1994-1998 und seit 1999. |
Nach dem formalen Ablauf formuliert das Parlament die Thematik, die es näher beleuchtet haben will, machen sich die Fraktionen Gedanken über passende Sachverständige, konstituiert sich das Gremium, tagt, prüft, forscht und recherchiert es in vielen Sitzungen, bis es zu einem Ergebnis kommt und es in einen Bericht gießt, auf dessen Grundlage das Parlament mögliche Folgerungen für seine eigene Arbeit und notwendige gesetzliche Konsequenzen aufzeigt. Diese Schilderung ist ganz und gar nicht falsch – und doch nur die halbe Wahrheit. Denn als eigentlich "spannend" empfinden erfahrene "Enquete-Arbeiter", dass sie nicht am Rande sitzen und an abstrakten Vorschlägen für einen fernen Tag basteln, sondern mitten drin permanent Impulse für die politische Arbeit geben. Und das nicht nur für die eigentliche Umgebung, die jeweils aktuellen Vorhaben der Fachausschüsse, mit denen es bei gemeinsam interessierenden Fragen auch gemeinsame Anhörungen gibt, sondern auch in den Ministerien, die mit Referenten die Fortschritte der Kommissionen verfolgen und die Mitglieder auch über den Diskussionsstand in den eigenen Häusern auf dem Laufenden halten.
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Themen von Enquete-Kommissionen: Schutz des Menschen
und der Umwelt Zwei Kommissionen von 1990-1994 und 1994-1998. |
Und auch das ist noch unvollständig. Denn daneben verfolgt auch die Wissenschaft die Arbeit in der Regel mit großem Interesse, gibt Anregungen oder verarbeitet selbst wichtige Hinweise, die sich aus noch nicht völlig geklärten Details ergeben. Kommissionsberichte sind oft genug nicht nur Bestandsaufnahmen, sondern sogar Grundlagenwerke geworden, die wieder und wieder zitiert werden. Nicht zuletzt geht es um die öffentliche Debatte. In Pressekonferenzen, öffentlichen Hearings und Berichten schaffen die Enquete-Kommissionen ein Bewusstsein für problematische Entwicklungen und für mögliche Lösungen. Das "Man-müsste-mal ..."-Gefühl verschwindet freilich nicht immer. Mitunter haben sich so viele neue Fragen ergeben oder so viele weitere Aspekte, dass der folgende Bundestag gleich eine neue Enquete-Kommission zur selben Thematik auf die Beine stellt. Zur "Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche Sachkomplexe" kann man schließlich nie zu viel wissen ...
Infos
Ausführliche Informationen zum Thema Enquete-Kommissionen finden Sie in der Broschürenreihe "Stichwort", die der Bundestag herausgibt. Sie kann angefordert werden beim Deutschen Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Telefon 030/227-274 53 oder Telefax 030/227-265 06.