Nicht zuletzt das Debakel um die Europäische Verfassung hat uns die tiefe Krise des europäischen Einigungsprozesses vor Augen geführt. Demokratiedefizite, Bürgerferne, mangelndes europäisches Identitätsbewusstsein, nationale Egoismen und Brüsseler Regulierungsmanie werden überall beklagt. Schon 1992 hat es der französische Sozialist Jacques Delors auf den Punkt gebracht: "Wir werden mit der europäischen Einigung keinen Erfolg haben, wenn sie sich einzig auf rechtliches oder wirtschaftliches Fachwissen gründet. Wenn es uns in den nächsten zehn Jahren nicht gelingt, Europa eine Seele, eine Spiritualität, einen Sinn zu geben, dann ist das Spiel aus."
An dieser Stelle gewinnt der Tagungsband zu dem vom Hamburger Staatsrechtler Ulrich Karpen geleiteten Symposions unter dem Thema "Der Kreisauer Kreis - zu den europapolitischen Vorstellungen des Widerstandskreises" heute eine hohe Aktualität. Die sehr anregenden, über die "Kreisauer" hinausgreifenden Beiträge sind teils personen-, teils themenzentriert.
Mag auch manches, was unter anderem auf drei großen Tagungen auf dem Gut Kreisau der Familie Moltke Pfingsten 1942, Oktober 1942 und Pfingsten 1943 von reformorientierten Vertretern aller gesellschaftlichen und politischen Richtungen überwiegend aus der jüngeren Generation, von altpreußischen Adeligen, Sozialisten, Geistlichen beider Konfessionen, Professoren, Landräten und Diplomaten diskutiert, angedacht und geplant worden ist, uns heute allzu utopisch, auch unausgegoren und bruchstückhaft erscheinen. Doch dort wurden unter dem Eindruck der nahenden Niederlage für die Nachkriegszeit bereits Vorstellungen entwickelt, hinter den der Prozess der europäischen Einigung nach 1945 weit zurückgeblieben ist.
Das "Europa der Regionen" ist schon vorgedacht in Moltkes Plänen für eine Überwindung des Nationalstaates durch die systematische Förderung der "kleinen Gemeinschaften", das heißt die Aufgliederung Europas in "historisch gewordene", in ihrer Größe vergleichbare Selbstverwaltungskörper unter dem gemeinsamen Dach eines durch Wahlen legitimierten europäischen Bundesstaates mit eigener Souveränität und gewissen zentralen Kompetenzen etwa in der Wirtschafts-, Außen- und Militärpolitik.
Die Verankerung von Minderheitenschutz in der künftigen europäischen Föderation wurde im Kreisauer Kreis ebenso intensiv diskutiert wie die notwendige Rückbesinnung auf das zur Solidarität verpflichtende Traditionserbe Europas, das durch die Antike, das Christentum, den Humanismus und die Aufklärung geformt worden sei, eine mögliche außenpolitische Äquidistanz Europas zu den USA und der Sowjetunion nach dem Krieg ebenso wie die Chancen und Schwierigkeiten einer europäischen Integration Großbritanniens, die verschiedenen Modelle einer wirtschaftlichen Verflechtung ebenso wie eine europäische "Charta der Arbeit".
Die in allen Beiträgen anklingende Aktualität der damaligen Planungen für eine stärkere geistig-politische Vertiefung und Fundierung Europas streicht besonders Heinrich Mommsen heraus. Er betont, in der Stunde der schwersten europäischen Krise habe sich im deutschen Widerstand - übrigens parallel auch in europäischen Widerstandskreisen jenseits der Grenzen und im politischen Exil - "ein Bewusstsein von der unverwechselbaren europäischen Identität (entfaltet), die über Marktbeziehungen und materielle Interessen hinaus reicht und an die heutige Gestaltungen anknüpfen können."
Ulrich Karpen (Hrsg.)
Europas Zukunft. Vorstellungen des Kreisauer Kreises um Helmuth James Graf von Moltke.
C. F. Müller Verlag, Heidelberg 2005; 196 S., 49,- Euro