Der Zaun ist das Wahrzeichen Melillas, die Bilder des vergangenen Jahres haben ihn dazu gemacht, diese beinahe komödiantischen, zu schnell ablaufenden Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Überwachungskameras von Männern, die mit selbstgebauten Leitern zu Hunderten erst den einen, dann den anderen Zaun überklettern. Wahrzeichen auch einer Politik der Ratlosigkeit. Europa weiß nicht, was tun mit den afrikanischen Flüchtlingen. Die Tore will ihnen niemand öffnen. Doch ihre Verzweiflung, ihre Hartnäckigkeit, ihr Mut gehen den Menschen ans Herz.
Früher kam Melilla sehr gut ohne Zaun aus. Als Spaniens Armee 1971 unter Diktator Francisco Franco zum ersten Mal Stacheldraht an der zehn Kilometer langen Grenze ausrollte, wollte sie bloß verhindern, dass eine in Marokko grassierende Cholera-Epidemie auf die spanische Exklave übergreift. Der kleine Grenzverkehr sollte so ungestört wie möglich weiter laufen. Melilla ist der Großmarkt des marokkanischen Nordostens. Noch immer kommen jeden Morgen die Marokkaner zum Einkaufen in die Stadt und kehren hochbepackt über die Grenze zurück. Spanien, das "echte" Spanien, ist weit. Melilla braucht Marokko, es braucht Afrika. Die Enklave wird nun langsam, im Namen Schengens, von Afrika abgeschnürt.
Die ersten Flüchtlinge kamen 1992. Sie hatten entdeckt, dass ein Stück Europa auf ihrem Kontinent liegt, dass sie sich den gefährlichen Weg in leichten Booten über die Straße von Gibraltar sparen konnten, um ihren Traum von der ersten Welt wahr zu machen. Auch damals war Spanien nicht vorbereitet. Melillas Straßen füllten sich mit Schwarzafrikanern, um die sich niemand kümmerte - die ganze Stadt eine Herberge unter offenem Himmel. Hin und wieder brachten Flugzeuge die Immigranten, die nicht abgeschoben werden konnten, weil ihre Heimatländer sie nicht wieder aufnehmen wollten, rüber auf die Iberische Halbinsel. Andere Flüchtlinge kamen nach, und die Leute in Melilla begannen zu murren. Also baute Spanien 1999 mit EU-Geld einen ordentlichen Zaun. Und, für alle Fälle, ein Auffanglager.
Kaum zu glauben, dieser Hightech-Zaun: unüberwindlich sollte er sein, mit seinem Stacheldraht vom Fuß bis zur Krone, den Bewegungsmeldern, den Infrarotkameras, den Hochsitzen. Und doch ist das "Zentrum für den zeitweiligen Aufenthalt von Immigranten", kurz CETI, mit seinen 450 Plätzen, in Blickweite des Zauns, fast von Beginn an voll gewesen. Irgendwie sind sie immer rübergekommen. Es ist später Abend, die Laternen werfen dieses fahle, falsche Licht, und so sieht die Grenze doch schlimm genug aus. Der Stacheldraht wirft Schatten. Jemand aus Melilla hat am Nachmittag die Geschichte von einem Arzt erzählt, der sich nach dem ersten Flüchtlingssturm freiwillig im Krankenhaus meldete und 48 Stunden lang nur Hände zusammennähte. Der Stacheldraht hat niemanden abgehalten, hat nur die Hände aufgerissen. Auf der stacheldrahtbewehrten Seite des Zauns, der marokkanischen, stehen jetzt Zelte, die vor dem Sturm noch nicht dastanden. Die Zelte der marokkanischen Soldaten. Einer von ihnen schaut und lacht und winkt zum Gruß. Er ahnt wohl: Er arbeitet jetzt für uns. Über Jahre warfen die spanischen Politiker den Marokkanern vor, in Sachen Migration alle Augen zuzudrücken, den Schleuserbanden freie Bahn zu lassen, die Flüchtlingsboote nicht beim Ablegen zu behelligen. Die Marokkaner machten den schwarzafrikanischen Flüchtlingen das Leben schwer, aber nicht unmöglich. Am Ende kamen sie durch. "Es war wie ein Fußballspiel mit gewissen Regeln", sagt José Palazón, der sich seit Jahren um die schwarzafrikanischen Flüchtlinge auf der marokkanischen Seite kümmert.
Doch auf einmal haben sich die Regeln geändert. "Die Marokkaner haben den Druck erhöht", sagt Ana Jiménez vom Büro Melilla Acoge, das die frisch angekommenen Immigranten berät. In diesem Fußballspiel waren die Flüchtlinge auf einmal der Ball, gegen den getreten wird. Ihren einzigen Ausweg fanden sie im schnellen und massenhaften Sprung über den Zaun. Doch worauf sie keine Antwort besaßen: auf die Gummigeschosse der Guardia Civil und auf die scharfe Munition der marokkanischen Sicherheitskräfte. "Die Botschaft an den Rest Afrikas ist: Komm nicht, denn du kannst sterben", sagt José Palazón. Er ist ein bekannter, unbequemer und deshalb viel gehasster Mann in Melilla. Vor Jahren hat er das Thema der marokkanischen Straßenkinder in der Stadt zur Sprache gebracht und auf Lösungen gedrängt, heute ist er so etwas wie die gute Seele der Schwarzafrikaner, die von Marokko aus mit Sehnsucht auf die Lichter Melillas schauen. Palazón ist aufgebracht. "Für die Toten sind beide Seiten verantwortlich, nicht nur die Marokkaner. Guardia-Civil-Beamte haben Gummigeschosse aus nächster Nähe auf Flüchtlinge am Zaun geschossen." Amnesty International klagt Spanien an, schwer verletzte Immigranten, die es schon über den Zaun geschafft hatten, wieder auf die marokkanische Seite geschleppt zu haben, ohne medizinische Hilfe und gegen die eigenen Gesetze.
Marokko soll es lösen - es ist der neue Gendarm Europas. Ausgerechnet Marokko, das die Grenzen zu Melilla und Ceuta nicht anerkennt, weil Melilla und Ceuta aus marokkanischer Sicht zu Marokko gehören. Ausgerechnet Marokko, mit seinem autoritären Regime ohne viel Respekt für die Menschenrechte, das die Immigranten in Handschellen in die Wüste karrt. "Ein afrikanischer Staat, der eine europäische Grenze schützt", sagt José Palazón, empört. "Marokko, das für Spanien und Europa die Drecksarbeit machen soll", sagt Yonaida Sellam, Präsidentin des Vereins Intercultura in Melilla. Die Drecksarbeit: Europa Afrika vom Halse halten. Aber sie werden weiter kommen, glaubt Ana Jiménez von Melilla Acoge. "Nicht wieder in Massen, aber sie werden wieder kommen."
Charles und Jonas haben es schon geschafft, Charles im August, Jonas im September, sie sind über die Zäune geklettert. Charles zeigt seine Stacheldrahtnarben. Jonas trug gute Handschuhe. Sie kommen beide aus Kamerun, kennen gelernt haben sie sich erst in Melilla. Wie ist Kamerun? "Ooooooo...", sagt der 37-jährige Jonas. "Es gibt keine Arbeit", sagt der 23-jährige Charles. Sie wollen rüber auf die "Península", das ist das erste Wort, das sie auf Spanisch gelernt haben, auf die "Halbinsel", nach Madrid oder nach Barcelona. Arbeit finden, gutes Geld verdienen und nach ein paar Jahren wieder zurück in die Heimat. "Wie ist Deutschland?", fragen sie zurück. "Gibt es da Arbeit?"
Martin Dahms arbeitet als Korrespondent für verschiedene Zeitungen in Madrid.