Die französische sozialistische Europaabgeordnete Martine Roure war perplex. Was sich ihr und anderen EU-Palamentariern im Flüchtlingslager auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa bot, entsprach ganz und gar nicht den Erwartungen: Gerade mal elf Insassen zählten die Volksvertreter, als sie im Herbst die Unterkunft besuchten - und das, obwohl die italienischen Behörden freimütig einräumten, im Schnitt liege die Belegungszahl bei 400 Flüchtlingen. Der offensichtliche Verschleierungsversuch der Verantwortlichen vor Ort führte zu scharfer Kritik bei Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken im Europaparlament. Dass das Lager praktisch geräumt worden war, bevor die Straßburger Delegation die dortigen Zustände und Lebensbedingungen überprüfen konnte, ließ das Misstrauen der Abgeordneten nur noch weiter wachsen.
Die Merkwürdigkeiten und Widersprüche auf Lampedusa passen zu dem Bild, das die EU auf diesem Feld insgesamt bietet: Offiziell hält Brüssel das Asylrecht hoch, doch über schärfere Gesetze auf nationaler Ebene und mit einer Verschärfung der Grenzanlagen schottet sich die Union zusehends nach außen ab. So wird der Vorwurf laut, die EU zimmere an einer "Festung Europa". Dabei sank die Zahl der Asylbewerber nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) in der EU in den vergangenen Jahren stetig. So wurden 2004 insgesamt 314.000 Asylanträge gestellt - Anfang der 90er- Jahre waren es noch mehr als doppelt so viele gewesen. Die stärksten Rückgänge gab es in Großbritannien und Deutschland. Der Trend nach unten setzte sich nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks auch im ersten Halbjahr 2005 fort. Wichtigste Herkunftsländer für Asylsuchende in der EU bleiben Serbien und Montenegro (einschließlich des Kosovo), Russland (inklusive Tschetschenien) und China.
Gestiegen ist hingegen die Zahl illegal eingereister Einwanderer. Zwar gibt es keine präzisen Statistiken. Die Brüsseler Kommission geht aber davon aus, dass etwa drei Millionen Ausländer ohne gültige Papiere in der EU leben. Europol und die Internationale Organisation für Migration schätzen sogar, dass jährlich rund 500.000 Menschen illegal in die Union strömen - meist, um der Armut in ihrer Heimat zu entfliehen.
Oft kommen diese Zuwanderer aus Osteuropa und Afrika, im Falle Spaniens aber auch aus Lateinamerika. Immer häufiger, so vermuten die Behörden, machen sich die "Illegalen" nicht allein auf den Weg, sondern versuchen ihr Glück mit Hilfe von skrupellosen Schleppern.
Zuwachs ist auch beim legalen Zuzug zu verzeichnen: Verrechnet man die Gruppe der Auswanderer mit der Zahl der Einwanderer, so sind in jüngerer Zeit jährlich mehr als zwei Millionen Immigranten zusätzlich in die EU eingereist. Spanien, Italien, Deutschland und Großbritannien sind dabei die häufigsten Anlaufstationen.
Brüssel obliegt seit 1999 die Zuständigkeit für die Asyl- und Flüchtlingspolitik, Grenzkontrollen, Visapolitik und die Aufenthaltsrechte von so genannten Drittstaatenangehörigen. So legte die EU etwa fest, wer als Flüchtling zu definieren ist und welchen Mindestschutz diese Menschen genießen sollen. 2003 wurde beispielsweise eine Fingerabdruck-Datenbank geschaffen, um zu verhindern, dass Asylbewerber in mehreren EU-Staaten gleichzeitig Anträge stellen. Auch ein Visa-Informationssystem ist im Aufbau und soll 2007 arbeitsfähig sein. Die Union beschloss auch, Menschenhändler und Schleuser härter zu bestrafen. Fluggesellschaften werden in die Pflicht genommen und können haftbar gemacht werden, wenn sie illegale Einreisen ermöglichen.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk warnt vergeblich vor zu hohen Hürden: Asylsuchende hätten praktisch keine Chance mehr, die EU zu erreichen. UN-Flüchtlingshochkommissar Antonio Guterres klagt, die Schranken würden immer höher gesetzt. Vereinigungen wie amnesty international oder der Europäische Flüchtlingsrat ECRE werfen der EU eine Aushöhlung des Asylrechts vor. Die Rechte von Asylbewerbern seien erheblich beschnitten worden, kritisiert der ECRE: Die von Brüssel versprochene "absolute Achtung des Rechts auf Asyl" sei in der Praxis "vollständig untergraben" worden. Die Standards für den Umgang mit Flüchtlingen lägen auf niedrigstem Niveau, so der ECRE-Bericht.
Pläne, EU-Flüchtlingslager in Drittstaaten einzurichten, wie dies 2004 erstmals vom damaligen deutschen Innenminister Otto Schily (SPD) vorgeschlagen worden war, sind bisher nicht realisiert worden. Bei Pilotprojekten aber versucht die Kommission bereits jetzt, in nordafrikanischen und osteuropäischen Transitstaaten Asylverfahren in Kooperation mit den Behörden vor Ort zu beschleunigen.
Umstritten ist dieses Vorgehen etwa in Libyen, weil Tripolis die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet. Der Brüsseler Innen- und Jusitzkommissar Franco Frattini wie die Innen- und Justizminister in der EU verweisen darauf, dass die Behörden solcher Transitländer auch in Menschenrechtsfragen geschult würden. Überdies vereinbarten die Staaten der Gemeinschaft, bei der Abschiebung illegal eingereister Ausländer zusammenzuarbeiten und dabei auch gemeinsame Rückführungsflüge zu organisieren. Die Bedingungen in den Lagern, in denen illegal eingewanderte Ausländer auf ihre Abschiebung warten, wurden wiederholt vom Europarat kritisiert. Der scheidende Straßburger Menschenrechtskommissar Alvaro Gil-Robles sagte nach einer Visite in einem solchen Lager in Paris, Zustände wie dort habe er "sonst nur noch in Moldawien gesehen".
Über Rücknahme-Abkommen verhandelt Brüssel mit Transit- und Herkunftsländern. Diese Verträge verpflichten Drittstaaten nicht nur, eigene Bürger wieder aufzunehmen, sondern auch über ihre Territorien in die EU gelangte Bürger anderer Nationalität. Solche Gespräche finden unter anderem mit der Ukraine, der Türkei, Marokko und Algerien statt. Frattini räumt ein, dass diese Abkommen im Prinzip auf Gegenseitigkeit beruhten, de facto aber der Union Vorteile verschafften. Deswegen müsse man diesen Ländern Gegenleistungen wie etwa finanzielle Hilfen anbieten.
Für kirchliche Organisationen wie den Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) ist die Abschiebung illegal eingereister Ausländer in solche Staaten aber - zumindest derzeit - keine Lösung: Gegenwärtig sei etwa Marokko nicht als sicheres Land für Flüchtlinge einzustufen, meint JRS-Sprecher Josep Buades zur Lage in dem nordafrikanischen Staat. Die Umgang mit Flüchtlingen aus den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla sei dafür nur ein Beispiel: Die marokkanischen Behörden hätten gar den Tod dieser Menschen in Kauf genommen. Eine gemeinsame Überzeugung teilen Kirchen, Flüchtlingsgruppen und Menschenrechtsaktivisten sowie Straßburger Abgeordnete und EU-Minister nur in einem Punkt: Ohne die Beseitigung der Fluchtursachen werde sich der "Migrationsdruck" nicht lindern lassen, erforderlich sei eine Bekämpfung der Armut in den Herkunftsregionen.
Unterdessen forcieren die Staats- und Regierungschefs ihre Kooperation bei der Asyl- und Einwanderungspolitik. Mit Hilfe des Ende 2004 verabschiedeten "Haager Programms" soll bis 2010 in der Union ein gemeinsames Asylsystem auf die Beine gestellt werden. Jüngst erblickte bereits ein "Meilenstein" (Frattini) auf diesem Weg das Licht der Welt - die Richtlinie zu Asylverfahren. Diese Regelung soll in allen 25 Ländern gleiche Mindesstandards beim Anerkennungs-Prozedere schaffen. Vorgesehen sind etwa beschleunigte Verfahren für offensichtlich unbegründete Asylanträge und eine Liste sicherer Herkunftsstaaten. Auf eine solche Liste konnte man sich aber bislang nicht einigen. Das Straßburger Parlament reichte zudem gegen das gesamte Gesetzeswerk Klage beim Europäischen Gerichtshof ein: Von rund 170 Änderungswünschen der Abgeordneten hätten Ministerrat und Kommission keinen einzigen Punkt akzeptiert, kritisiert die Volksvertretung.
Besser steuern will das "Haager Programm" die legale Einwanderung. Innenkommissar Frattini und Sozialkommissar Vladimir Spidla präsentierten zu Jahresbeginn erste Skizzen für eine solche Politik. Deren Ziel ist es, die Einreise gut ausgebildeter Fachkräfte in die EU zu fördern.
Die Zahl der Immigranten festzulegen, ist freilich weiter Sache der einzelnen Mitgliedsstaaten. Trotz aller Bemühungen um eine gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik: Über deren Ausrichtung und Details wird in Brüssel weiterhin heftig gestritten werden.
Christoph Lennert ist Korrespondent der Nachrichtenagentur KNA in Brüssel.