Das neue Jahrtausend hatte gerade begonnen, da gelobten Europas Politiker, dass nun alles besser würde. 2000 beschlossen die EU-Regierungschefs, mit Hilfe der Lissabon-Strategie bis zum Ablauf der Dekade zur weltweit dynamischsten Wirtschaftsregion zu werden. Nach einem Jahrzehnt, in dem die Union ökonomisch stagniert hatte, richtete sich der Blick nach vorn. Bis 2010 wollte man den überlegenen globalen Wachstumsmotor USA mit einer Mischung aus wirtschaftlichen Reformen und Investitionen in Zukunftsbranchen überflügeln. So sollte in der EU die Erwerbslosigkeit spürbar reduziert werden.
Was damals im Rausch der New Economy greifbar nahe schien, wirkt inzwischen völlig utopisch. Europa ist es nicht geglückt, den Abstand zu den Vereinigten Staaten zu verringern. Still und leise verabschiedete sich die EU vergangenes Jahr von ihrem Ziel, bis 2010 zum stärksten Wirtschaftsraum der Welt zu werden.
Inzwischen herrschen statt Zuversicht vor allem in Westeuropa Ängste vor. Die Arbeitnehmer fürchten den Verlust ihres Wohlstands, weil Unternehmen ihre Produktion nach Osteuropa verlagern - oder gleich nach Asien. Die rasant wachsenden Volkswirtschaften Chinas oder Indiens, so die Sorge, könnten Industrienationen wie Deutschland oder Frankreich dauerhaft den Rang ablaufen.
Vor Hysterie ist indes zu warnen. Der globale Exportweltmeister heißt nicht Südkorea, sondern Deutschland. Und die neuen Riesen in Asien sind in Wahrheit noch Zwerge. China liegt mit einem Pro-Kopf-Einkommen von jährlich rund 1.300 Dollar weltweit ungefähr auf Rang 100, auf gleicher Höhe mit der Ukraine. Indien kommt gar nur auf 400 Dollar. Ein Bürger der Eurozone erwirtschaftet hingegen mehr als 25.000 Dollar.
Der Abstand ist groß, und diese Differenz erklärt auch zum Teil die auseinanderklaffenden Wachstumsraten. China und Indien fällt es von einer niedrigen Basis aus weitaus leichter, die Wirtschaftsleistung rasch zu steigern, als den reifen Ökonomien Westeuropas. Dennoch bleiben die Unterschiede besorgniserregend. Nach 7,5 Prozent 2005 soll Indien dieses Jahr wirtschaftlich um acht Prozent zulegen, China gar um 9,2 Prozent nach 9,9 Prozent im Vorjahr - das bevölkerungsreichste Land der Welt ist mittlerweile die viertgrößte Wirtschaftsnation nach den USA, Japan und der Bundesrepublik. Die 15 alten EU-Staaten bleiben im Zehnjahresvergleich mit einem Wachstum von zwei Prozent noch hinter der ebenfalls entwickelten Volkswirtschaft USA mit drei Prozent zurück.
Besonders die westeuropäische Bilanz auf dem Arbeitsmarkt ist verheerend. Unvermeidbar scheinen weitere Reformen, die den Faktor Arbeit von Kosten der Sozialsysteme entlasten. Jobs in der Produktion von Massenware dürften wegen der deutlichen Lohndifferenzen zu Osteuropa oder Asien kaum zu halten sein. Die EU-Mengenbeschränkungen und Strafzölle für chinesische T-Shirts und Schuhe muten da wie Rückzugsgefechte für schrumpfende Branchen an. Die EU braucht hochqualifizierte Arbeitsplätze, um hohe Löhne rechtfertigen zu können. Dazu wäre es allerdings nötig, massiv in Bildung, Forschung und Entwicklung zu investieren. Nur so sind Jobs in der Autobranche, in der Chemie oder im Sektor der Hochtechnologien zu sichern. Auf diesem Feld gibt die EU jedoch ein schlechtes Bild ab. Während die Union zuletzt weniger als zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung steckte, waren es in den USA 2,6 Prozent und in Japan 3,15 Prozent. China erhöht seine Aufwendungen in diesem Bereich alle zwölf Monate um ein Fünftel. Gefordert sind aber nicht nur Politiker, sondern ebenso Unternehmen: Während die 500 größten europäischen Firmen ihre Forschungsbudgets zuletzt um zwei Prozent reduzierten, stockten die 500 größten Unternehmen außerhalb Europas diese Ausgaben um vier Prozent auf.
Was nicht übersehen werden sollte: Unternehmen in der EU müssen mehr bürokratische Vorschriften beachten als ihre Konkurrenten in Übersee und Fernost. Die politischen Vorgaben beim Umwelt- und Verbraucherschutz, klagt die Industrie, ließen sich auch mit einem für die Wirtschaft geringeren Aufwand erreichen. Unter Präsident Barroso hat die Kommission erstmals eine Kehrtwende eingeschlagen: Brüssel will Vorschriften streichen, statt nur neue zu erfinden. Die Richtlinie zur Kontrolle zehntausender Chemikalien etwa wurde vereinfacht, um zu große Belastungen für die Wirtschaft zu vermeiden - schließlich ist die Chemie eine jener Branchen, in denen die Europäer noch führend sind.
Schon heute stellt der Dienstleistungssektor zwei Drittel aller Arbeitsplätze in der EU bereit. Die Öffnung der abgeschotteten nationalen Servicemärkte böte eine Chance, das Potenzial dieser Branchen zu erhöhen. EU-Parlament und Mitgliedstaaten sind jedoch dabei, die Liberalisierung weitgehend zu stoppen. Zu groß sind die Ängste in den einzelnen Ländern, dass offene Grenzen die Konkurrenz verstärken.
Ähnlich defensiv agiert die Europäische Union in den Verhandlungen um ein neues Welthandelsabkommen. Eine globale Runde von Zollsenkungen verspricht daher neue Exportchancen für die kontinentale Industrie, erfordert aber im Gegenzug eine Verringerung des Schutzes der europäischen Landwirtschaft vor Importen - was derzeit politisch nur begrenzt durchsetzbar scheint.
Als globale Wirtschaftsmacht bietet die EU im weltweiten Wettbewerb ein Bild von Zögerlichkeit und Unentschiedenheit: Man demonstriert wenig Vertrauen in die eigene Stärke und zaudert, die durchaus vorhandenen positiven Standortfaktoren im Konkurrenzkampf mit anderen Wirtschaftsräumen zu nutzen.
Alexander Hagelüken ist Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in Brüssel.