Unangenehme Wahrheiten lassen sich leichter im persönlichen Gespräch übermitteln, müssen Kommissionspräsident Barroso und Erweiterungskommissar Olli Rehn gedacht haben. Deshalb reisten sie am 16. Mai, nachdem sie dem Europäischen Parlament in Straßburg die neuesten Fortschrittsberichte zu Rumänien und Bulgarien vorgestellt hatten, gleich weiter nach Bukarest und Sofia.
Einen Schock dürfte der Inhalt der beiden Dokumente bei den Adressaten allerdings kaum ausgelöst haben. Die Frage, die sowohl die Gemüter in Brüssel als auch in den Kandidatenländern in den letzten Wochen am meisten bewegte, beantworten die Berichte zwar nur indirekt aber durchaus in deren Sinn: Der Beitritt soll nicht verschoben werden. Sämtliche Mahnungen und Forderungen beziehen sich auf das Datum 1. Januar 2007.
Vor dem EU-Parlament in Straßburg erinnerte Erweiterungskommissar Olli Rehn an die Erfolge der zwei Jahre zurück liegenden letzten Erweiterungsrunde und sagte: "Es ist unsere Pflicht, beide Länder am 1. Januar 2007 aufzunehmen. Es ist aber auch die Pflicht der Kommission, zu prüfen, ob alle Bedingungen erfüllt sind." Diese recht widersprüchliche Aussage wurde von den meisten Abgeordneten ohne Nachfragen akzeptiert. Lediglich Daniel Cohn-Bendit bezeichnete den Beitritts-Automatismus als einen Fehler. Bei seiner Reise durch die Region habe er erschütternde Misswirtschaft gesehen. Die Regierung Bulgariens sei nicht in der Lage zu erklären, wo zum Beispiel Fördermittel für Roma-Siedlungen versickert seien.
14 Bereiche waren im Herbstbericht über Rumänien noch in der kritischsten Kategorie, was in der seltsamen Sprache der Fortschrittsberichte damit umschrieben wird, dass sie "Anlass zu ernster Sorge" ga-ben. Alle bis auf vier sind nun in die Kategorie gerutscht, wo "verstärkte Anstrengungen" nötig sind, um alle Auflagen bis zum Beitrittstermin zu erfüllen. In Bulgarien bereiten noch immer mehrere Politikbereiche der Kommission "ernste Sorge": Verwaltung und Kontrolle der Agrarsubventionen und der europäischen Strukturhilfe, der Kampf gegen organisierte Kriminalität, gegen Betrug, Korruption und Geldwäsche.
Die Liste für Kategorie zwei ("verstärkte Anstrengungen") ist für beide Länder noch immer lang. Sie reicht vom Schutz des geistigen Eigentums über tierärztliche Grenzkontrollen, Maßnahmen gegen Um-weltverschmutzung durch Industrieanlagen bis zum Deckungskapital für Banken oder Beihilfenkontrolle fast alle Politikbereiche. Diese Liste gibt einen Hinweis darauf, wie sich die EU-Kommission den Übergang der beiden Neulinge in die Europäische Gemeinschaft in der Praxis vorstellt: Überall dort, wo eines der Länder die EU-Standards gravierend verfehlt, wird Brüssel aus der Mitgliedschaft resultierende Rechte aussetzen - so lange, bis der Mangel behoben ist.
Der Beitrittsvertrag enthält eine allgemeine Schutzklausel für die Wirtschaft. Danach kann zum Beispiel einer der beiden Neulinge beantragen, bestimmte Wirtschaftsbereiche für eine Übergangszeit durch Beihilfen oder Schutzzölle gegen den Konkurrenzdruck des freien Marktes abzupolstern. Ebenso könnten aber auch "alte" EU-Mitglieder Einfuhrquoten für bestimmte Produkte oder Arbeitsbeschränkungen für Rumänen oder Bulgaren erlassen. Spezielle Schutzklauseln sind zusätzlich für die Bereiche Binnenmarkt und Justiz vorgesehen. Zum Beispiel kann die Kommission auf Antrag die Einfuhr von Geflügel aus Rumänien verbieten, weil die Hygienestandards nicht den EU-Normen entsprechen. Entsprechende Anträge können bis zu drei Jahre nach Beitritt gestellt werden, bleiben aber unter Umständen über diese Frist hinaus in Kraft.
Die Wortwahl der Berichte gibt einen deutlichen Hinweis, dass die Kommission eine Verschiebung des Beitritts um ein Jahr auf den 1. Januar 2008 nicht in Betracht zieht. Der Ministerrat würde einen solchen Schritt auch kaum mittragen. Zumindest bei Bulgarien, dem derzeit größten Sorgenkind, müssten alle 25 EU-Regierungen zustimmen. Bei Rumänien, das derzeit viel weniger Anlass zur Sorge gibt, würde dagegen die qualifizierte Mehrheit genügen, um eine Verschiebung zu erreichen. Liest man das Kleingedruckte in ihrem Bericht, wird aber doch auf absehbare Zeit eine Mitgliedschaft zweiter Klasse daraus.