1949 bis 1963: Wiederaufbau und Westintegration
Erste Parlamentseröffnung am 7.9.1949 im Bundeshaus in Bonn
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Die parlamentarischen Anfangsjahre sind gewiss die arbeitsreichsten in der Geschichte des Bundestages. Parlament und Regierung stehen vor einer schier unübersehbaren Fülle von Aufgaben und Problemen. Die Folgen des Krieges und der Naziherrschaft sind zu bewältigen. Viele Millionen Deutsche befinden sich in Notlagen, insbesondere die Opfer der Naziherrschaft, die ehemaligen Häftlinge und Zwangsarbeiter, die Kriegsopfer und Hinterbliebenen, die heimkehrenden Soldaten und die weit über zehn Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen sowie die Ausgebombten. Die Wirtschaft liegt am Boden und es herrscht ungeheure Wohnungsnot. Die zerstörten Städte, Dörfer und Produktionsstätten müssen neu aufgebaut werden. Dies gilt auch für die Institutionen der staatlichen und kommunalen Verwaltung, der Justiz und des Finanzwesens. Es stellen sich Fragen zu einer neuen Sozialordnung und - nicht zuletzt - wie Ansehen und Vertrauen in der Welt wiedergewonnen werden kann. Nie wieder ist der Bundestag in einem solchen Maße als Gesetzgeber gefordert und tätig wie in den ersten beiden Wahlperioden zwischen 1949 und 1957. In diesem Zeitraum behandelt das Parlament insgesamt 1687 Gesetzentwürfe und verabschiedet davon 1052.
Entscheidungen grundlegender Bedeutung
In dieser Zeit werden Gesetze geschaffen und politische Entscheidungen getroffen, die für die innere Ordnung und den weiteren politischen Weg der Bundesrepublik von grundlegender Bedeutung sind:
- die Versorgungs- und Entschädigungsgesetze für die einzelnen Gruppen der vom Krieg und der Naziherrschaft unmittelbar Betroffenen
- das Gesetz über die Montanmitbestimmung
- das Betriebsverfassungsgesetz
- das Wohnungsbaugesetz, mit dem die Grundlage für den sozialen Wohnungsbau geschaffen wird sowie
- das Lastenausgleichsgesetz, das den Flüchtlingen, Vertriebenen und Ausgebombten wirtschaftliche Unterstützung zur Eingliederung in den Wirtschafts- und Arbeitsprozess eine gewisse Entschädigung für ihr verlorenes Hab und Gut und Hilfen für die Gründung neuer Existenzen verschafft und denjenigen, die Heimat und Besitz behalten hatten, ein hohes Maß an Solidarität abverlangt.
Beispielloser wirtschaftlicher Aufstieg
Zahlreiche Gesetze wie das Bundeskartellgesetz dienen dazu, für das von Wirtschaftminister Ludwig Erhard durchgesetzte Konzept der sozialen Marktwirtschaft die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Auf diese Weise hat der Bundestag auch einen wesentlichen Anteil am beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg im ersten Jahrzehnt - dem sogenannten Wirtschaftswunder . In den folgenden Jahren wird der Sozialstaat ausgebaut.
Über die Wirtschaftsentwicklung in Verbindung mit der Beschäftigung in den ersten drei Jahrzehnten geben die beiden folgenden Tabellen Auskunft.
Jahr | 1950 | 1955 | 1960 | 1965 | 1970 | 1975 | 1980 | 1981 | 1982 |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Mrd. DM | 426,7 | 673,4 | 941,5 | 1.265,2 | 1.543,2 | 1.718,0 | 2.018,0 | 2.020,0 | 2.001,0 |
Jahr | 1950 | 1955 | 1960 | 1965 | 1970 | 1975 | 1980 | 1981 | 1982 |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Prozent | 11 | 5,6 | 1,3 | 0,7 | 0,7 | 4,7 | 3,8 | 5,5 | 7,5 |
Quelle: Statistisches Bundesamt
Dynamische Rente
Viele dieser Gesetze werden nach intensiver Ausschussberatung im Konsens zwischen der parlamentarischen Mehrheit aus den Koalitionsparteien und der Opposition beschlossen. Zu diesen gehören auch die Gesetze zur Rentenreform (1957), die das bis heute gültige Rentensystem mit der dynamischen Rente einführen. Diese sieht eine laufende Anpassung der Renten an die Einkommensentwicklung vor.
Mit großer Leidenschaft geführter parlamentarischer Streit
Obwohl sich die Besatzungsmächte die Regelung der äußeren Beziehungen vorbehalten haben, rücken frühzeitig auch außen- und sicherheitspolitische Fragen in den Mittelpunkt parlamentarischer Auseinandersetzungen. Der Ost-West-Konflikt verschärft sich mit dem Ausbruch des Koreakriegs und der von Adenauer zielstrebig verfolgten Westintegration der Bundesrepublik. Die Westmächte und Adenauer streben die Mitgliedschaft der Bundesrepublik im westlichen Verteidigungsbündnis der NATO an. Zwischen der Koalition und der Opposition entsteht ein jahrelanger und mit großer Leidenschaft geführter parlamentarischer Streit um die damit zusammenhängende Wiederbewaffnung und Aufrüstung der Bundesrepublik. Auch die Öffentlichkeit nimmt großen Anteil an dieser Auseinandersetzung. Weite Teile der Bevölkerung lehnen zunächst die Aufstellung deutscher Streitkräfte ab. Viele lassen sich erst allmählich unter dem Eindruck zunehmender Bedrohung aus dem Osten von deren Notwendigkeit überzeugen. Doch stimmt der Bundestag den Pariser Verträgen mit Mehrheit zu. Die Bundesrepublik ist somit in die NATO aufgenommen - mit der sich daraus ergebenden Verpflichtung deutsche Streitkräfte aufzustellen. Die SPD lehnt die Verträge ab. Mit der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunden erlangt die Bundesrepublik am 5. Mai 1955 Souveränität - zehn Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs in Europa. Die Souveränität war zuvor durch alliierte Vorbehaltsrechte eingeschränkt.
Wiedergutmachungsabkommen mit Israel
Starke internationale Beachtung und Zustimmung findet die Bereitschaft des Bundestages zu Entschädigungsleistungen an Israel und die Überlebenden des Holocausts. Dem von der Bundesregierung mit Israel getroffenen Wiedergutmachungsabkommen stimmt die Opposition im Jahr 1953 geschlossen zu.
Aufbau der Europäischen Gemeinschaft
Schließlich stimmt der Bundestag den Römischen Verträgen zur Gründung der Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaft zu. Das Fundament für den Aufbau der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1957 ist somit gelegt. Der erste Schritt dazu war bereits 1952 mit der Gründung der Montanunion getan. Zuvor hat die SPD-Opposition wegen der noch bestehenden außenpolitischen Beschränkungen starke Vorbehalte gegen diesen ersten Schritt. Nachdem die Bundesrepublik souverän geworden ist, stimmt sie ohne Einschränkungen dem Aufbau der Gemeinschaft zu. Auch der 1963 abgeschlossene Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit findet im Bundestag eine breite Zustimmung. Doch muss es die Bundesregierung hinnehmen, dass das Parlament dem Vertrag eine Präambel hinzufügt. Sie weist auf die fortbestehenden Verpflichtungen gegenüber den anderen Bündnispartnern hin. Dennoch behält der Vertrag seine Bedeutung als Grundlage für eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern.
Mehr Kontrollrechte des Parlaments gegenüber der Regierung
Nach dem In-Kraft-Treten der Pariser Verträge bildet die Wehrgesetzgebung einen weiteren Schwerpunkt der parlamentarischen Arbeit. Die mit Zustimmung der Opposition beschlossene so genannte Wehrverfassung trägt wesentlich zur Erweiterung der parlamentarischen Mitspracherechte und zur Erstarkung des Parlaments gegenüber der Regierung bei. Die Wehrverfassung räumt dem Parlament und seinem Verteidigungsausschuss besondere Kontrollrechte ein - nicht zuletzt durch die Schaffung des Amtes eines Wehrbeauftragten, der dem Parlament gegenüber verantwortlich ist. In den ersten Jahren der Ära Adenauer sprechen noch viele von der Bundesrepublik als einer "Kanzlerdemokratie". Dies ist darauf zurückzuführen, dass Adenauer alle dem Bundeskanzler zustehenden Kompetenzen voll auszuschöpfen wusste. In den Folgejahren gewinnt das Parlament an Selbstbewusstsein. Die Bedeutung der dem Kanzler von der Verfassung verliehenen Kompetenzfülle darf jedoch nicht unterschätzt werden. Im Oktober 1962 wirft die Regierung dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" Landesverrat vor - wegen eines Artikels über Interna der Bundeswehr. Die Durchsuchung der Redaktion, Verhaftung des Herausgebers und eines Korrespondenten führt zur so genannten "Spiegel "-Affäre. Die Regierung setzt sich damit dem Vorwurf der Verletzung der Pressefreiheit aus. Es kommt zu einem ernsthaften Konflikt zwischen Parlament und Regierung. Dies löst eine Koalitionskrise aus.
Bau der Berliner Mauer
Immer wieder steht auch die Deutschlandpolitik auf der Tagesordnung - mit der Frage, wie die Wiedervereinigung zu erreichen sei. Während die Bundesregierung der Westintegration den Vorrang einräumt, sieht die SPD darin ein Hindernis für die Wiedervereinigung. Dann jedoch verkündet 1960 Herbert Wehner (SPD) in einer aufsehenerregenden Bundestagsrede, dass auch für seine Partei das europäische Bündnis- und Vertragssystem Grundlage und Rahmen für alle Bemühungen der deutschen Außen- und Wiedervereinigungspolitik sei. Am 13. August 1961 veranlasst die DDR-Regierung den Bau der Berliner Mauer. Die hermetische Abriegelung der DDR-Grenzen verfestigt die deutsche Teilung. Die folgenden Jahre lassen neue Überlegungen zur Gestaltung des Verhältnisses zu den Staaten des Ostblocks und zur DDR aufkommen. Mit der Annäherung zwischen den beiden großen Fraktionen kommt auch der Gedanke an eine Große Koalition ins Spiel. Zwar verlaufen entsprechende Sondierungsgespräche nach der Bundestagswahl 1961 ohne Erfolg. Doch bleibt die Tür zu einer Großen Koalition weiterhin einen Spalt breit geöffnet - auch nach dem Rücktritt Adenauers 1963 und der Fortsetzung der Koalition der Union mit der FDP unter Ludwig Erhard.