Angela Merkel hat den Charme der Volksbefragung entdeckt. Angeregt durch einen Vorschlag des CSU-Landesgruppenchefs Glos träumte sie vergangene Woche noch laut, wenn auch ein wenig halbherzig, von Unterschriftenlisten in den Fußgängerzonen von Goslar bis Angermünde. Besorgte Bürger, die gelesen haben, ein EU-Beitritt der Türkei würde Millionenzuwanderung und den Untergang des Abendlandes bedeuten, sollten so ihren Unmut über die mögliche Erweiterung zum Ausdruck bringen. Ist die Union auf eine basisdemokratische Ader gestoßen? Merkel, Glos und Co als Spontis der Neuen Mitte? Sehen wir in Zukunft wochenlange Sit-Ins des versammelten Bundesvorstandes auf Phoenix? Wird sich Frau Merkel an die Gitter des Kanzleramtes ketten und in den Hungerstreik treten, bis ihr (endlich!) Einlass gewährt wird? Erwartet uns Edmund Stoiber in Jeans und Strickpullover, Transparente schwenkend unter dem Bundesadler? Kaum fünf Jahre ist es her, da fand die damalige Generalsekretärin der CDU auf einer internen Parteisitzung deutliche Worte für solch außerparlamentarischen Widerstand: "Zum Kotzen" finde sie die geplante Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, die Roland Koch, der Mann mit dem rechten Riecher für Volkes Nöte 1999 im hessischen Landtagswahlkampf angezettelt hatte. Da war Angela Merkel aber noch nicht Parteivorsitzende und potenzielle Kanzlerkandidatin der CDU. Nun herrscht verkehrte Welt in der deutschen Parteienlandschaft. Die Grünen, vor Jahren noch verlässliche Unruhestifter in den trägen Mühlen der Parlamentsbürokratie, haben am Gipfel der Macht ihre Bärte geschoren und sagen nun Sätze wie unser Außenminister kürzlich in einem Interview: "Ich finde, unsere repräsentative Demokratie funktioniert sehr gut." Hätte man zu jeder wichtigen Frage das Volk befragt, gäbe es schließlich weder Euro noch Bundeswehr. Richtig, Joschka. Anti-AKW-Aktionen, Sitzblockaden gegen die Startbahn-West oder die Stationierung von Pershing-Raketen nebst Strickorgien auf Grünen-Parteitagen, das sind alles alte Socken. Fischer will schon immer ein Realo gewesen sein, keine Rede mehr vom wilden Frankfurter Straßenkämpfer Joseph, dem Mitbegründer des "Revolutionären Kampfes". Nun wird der selbst ernannte Ober-Realo sogar von der Union in Sachen Direktdemokratie überflügelt. CDU und CSU, plebiszitärer Auswüchse bislang unverdächtig, hatten denn auch schnell eifrige - allerdings unerwünschte - Unterstützer auf ihrer Seite. Während sich in der eigenen Partei früh massiver Widerstand gegen die Pläne regte, wollten NPD und DVU gern gemeinsam mit der Union auf Unterschriftenfang gehen. Das ging dann doch zu weit, Merkel ruderte zurück und stoppte die geplante Aktion. Aber warum die ganze schöne Idee in die Tonne werfen? Warum nicht eine Volksbefragung zur EU-Verfassung starten? Zur geplanten Senkung des Spitzensteuersatzes? Oder zur Gesundheitsprämie? Sicher müssten auch schon die ersten "K-Listen" ausgelegt werden, schließlich ist 2006 Wahl, und dafür braucht es ja bekanntlich einen Kanzlerkandidaten.