Zweimal war der "Lügenbaron" zu Lebzeiten in Königsberg: 1738 und 1750. Und der Legende nach soll er Zechpreller gewesen sein - ein Bier nicht bezahlt haben. Das brachte die Stadtväter von Bodenwerder, der Geburtsstadt von Münchhausen, auf die Idee, die Rechnung zu begleichen, Brücken zu schlagen an den Pregel - ins russische Kaliningrad - und der Stadt zum Jubiläum ein Münchhausen-Denkmal zu schenken: der Baron als Silhouette auf der berühmten Kanonenkugel - eine Szene aus dem Krieg gegen die Türken, in dem Freiherr von Münchhausen auf Seiten der russischen Armee kämpfte.
Auf der Bodenplatte der zweieinhalb Meter hohen Skulptur: zwei Namen für eine Stadt: Königsberg / Kaliningrad. Der Blick durch die Silhouette: ein Blick vom Gestern ins Heute.
Das Heute ist russisch - und wird von Tag zu Tag russischer. Das Stadtjubiläum war eine Demonstration vor der Welt, dass Russlands Westgrenze an der Ostsee nicht zur Disposition steht. An diesem Ort habe Russland die ersten Kontakte mit den Ländern Europas geknüpft, betonte Präsident Putin. Hier habe sich Zar Peter der Große an der Spitze der Großen Ambassade nach Europa aufgehalten. "Wir werden niemals die Taten unserer Vorfahren vergessen, die mehr als einmal an dieser Ostseegrenze die Interessen unseres Vaterlandes glänzend verteidigt haben."
Der Kreml führte Regie beim Stadtjubiläum. Moskau zahlte - und bestimmte die Musik, verordnete das Motto: "750 Jahre Kaliningrad."
Ohne Putin wäre nichts gelaufen. Und manche munkeln, Ehefrau Ljudmila, die aus Kaliningrad stammt, soll letztlich dafür gesorgt haben, dass man 750 Jahre Stadtgeschichte aufs Schild hob und nicht - wie einigen vorschwebte - 60 Jahre Kaliningrad feierte.
Auch der Vorschlag, Lenin ausgerechnet jetzt zu restaurieren - und rechtzeitig zum Jubiläum aus dem Verkehr zu ziehen - soll aus dem Kreml gekommen sein.
So präsentierte sich denn das neue Stadtzentrum am Nordbahnhof mit der fast 70 Meter hohen marmor-weißen Christus-Erlöser-Kathedrale den Gästen aus aller Welt ohne den ins Depot verbannten Lenin.
Der Revolutionär hätte sich wohl auch schaudernd abgewandt angesichts des Andrangs der Gläubigen bei der Einweihung des neuen Gotteshauses. Jene, die keinen Einlass fanden, konnten die dreistündige Liturgie auf riesigen Bildschirmen am Dom Sowjetow verfolgen.
Das Haus der Räte - die ewige Bauruine im Herzen Königsbergs - hatte zur Feier des Jubiläums auf einer Seite einen weißen Anstrich erhalten, auf der anderen war sie mit einem riesigen Plakat zugehängt. Schließlich sollte das "Monster" die Jubiläumsgäste nicht verschrecken. Auch Präsident und Kanzler kamen ja hier vorbei auf dem Wege zu Kant.
Immanuel der Große war d i e Hauptperson beim Stadtjubiläum. Zwar erhielten auch die Könige am Königstor ihre 1945 abgeschossenen Köpfe zurück, doch im Mittelpunkt stand eindeutig Kant. Dem Philosophen müssen die Ohren geklungen haben angesichts der Loblieder, die auf ihn angestimmt wurden.
Als Russlands Staatsrat am 2. Juli in Königsberg zusammentrat, klärte Wladimir Putin die aus allen Regionen des Riesenreiches angereisten Politiker erst einmal über den Ort des Geschehens auf: "Unser Treffen findet in der Geburtsstadt des großen deutschen Gelehrten und weltberühmten Philosophen Immanuel Kant statt." Kant habe in seinen Werken stets die Bedeutung des Prinzips der Gewaltenteilung in Staaten hervorgehoben. Diese Ideen hätten ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren, nicht nur für Russland, sondern für alle Länder ohne Ausnahme.
Kaliningrads Universität trägt jetzt den Namen "Russische Staatliche Immanuel-Kant-Universität". "Wir achten das Vermächtnis des großen Aufklärers und Weltbürgers", so Wladimir Putin bei der Enthüllung der Kant-Gedenktafel am Universitätsgebäude. "Das verbindet uns mit unseren deutschen Partnern."
Es war ein strahlender Sommertag, als der russische Präsident und der deutsche Kanzler Immanuel Kant ihre Reverenz erwiesen - Kaiserwetter in Königsberg mit Wolkenschiffen, wie sie so nur am Himmel über Ostpreußen segeln. Der alte Philosoph - mit Spazierstock und Dreispitz - blickte von seinem Sockel wohlgefällig in die Runde. Und Gerhard Schröder schien sich bewusst, dass er nicht irgendeinen Ort in Russland besuchte an diesem Sonntag im Juli 2005. Diese Stadt, die heute Kaliningrad heiße, sie sei für viele Deutsche "im Herzen immer Königsberg geblieben".
Königsberg ist von der Landkarte verschwunden. Doch Königsberg lebt - in Kaliningrad.
Der Dom, der "greise Ordensmann" am Pregel, er strahlt in neuem Glanz. Das Königstor - Symbol des Stadtjubiläums - wurde endlich restauriert. Und wenn es nach Wladimir Putin geht, soll das erst der Anfang sein. Er sei absolut sicher, dass man Zug um Zug die gesamte Stadt und das Königsberger Gebiet wieder aufbauen werde.
In diesem Punkt sind auch Russlands deutsche Partner gefordert. So sehr man sich in Kaliningrad über ein Denkmal für Münchhausen oder Ausstellungen der ZEIT-Stiftung freut, es gibt viele Baudenkmäler, die darauf warten, endlich restauriert zu werden. An Ideen mangelt es nicht in Kaliningrad - sogar über einen Wiederaufbau des Schlosses wird nachgedacht, doch Mittel und Möglichkeiten vor Ort sind begrenzt.
Professor Vera Zabotkina, stellvertretende Rektorin der Universität, wünscht sich viele Jubiläen, um die Stadt auf Vordermann zu bringen. "Wir sind stolz, dass wir Ruinen haben. Keine andere Stadt Russlands hat zum Beispiel eine solche Militärarchitektur mit Katakomben und Festungen. Königsberg existiert nicht mehr, aber wir glauben, dass Königsberg in Zukunft existieren wird. Und wir versuchen, Brück-en zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu bauen."
Die Kant-Universität hat Partnerschaftsverträge mit nicht weniger als zwölf deutschen Universitäten abgeschlossen. Der Brückenbau nach Westen ist für Russlands Insel im Meer der EU lebenswichtig - überlebenswichtig. Für die knapp eine Million Menschen zwischen Kurischer Nehrung und Rominter Heide ist der wichtigste Bezugspunkt längst Europa, rückt Russland - Kernrussland - in immer weitere Ferne. "Wir sind aus König", sagen sie und hoffen, dass sie bald schon in ihrer Stadt Visa für Reisen nach Deutschland erhalten werden.
Ein Gebäude für das deutsche Generalkonsulat wurde nach langen Irrungen und Wirrungen - pünktlich zu Stadtjubiläum und Kanzlervisite - gefunden. Generalkonsul Cornelius Sommer wird sogar in einer Straße residieren, die nach einem Deutschen benannt ist: in der Thälmann-Straße…
Das Bier, das eigens zum Stadtjubiläum auf den Markt kam, heißt übrigens "Königsberg 750". Und auf der Flasche ist ausdrücklich vermerkt: "Nach dem Reinheitsgebot aus dem Jahre 1516 gebraut."
Keine Frage: Königsberg lebt. Und es wird nach 750 Jahren immer lebendiger. Daran vermögen auch fünf goldene Zwiebeltürme einer orthodoxen Kathedrale nichts zu ändern. Im Gegenteil, künden sie doch weithin davon, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist am Pregel, dass Stalins Kriegsbeute Königsberg gute Chancen hat, um mit Kant zu sprechen, wieder zu einem "schicklichen Platz" zu werden - "zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis".
Ein Anfang ist gemacht. Das Königstor weist den Weg - in die Zukunft von Königsberg.