Zumindest was die Atmosphäre angeht, unterscheiden sich deutsche und georgische Gerichtsverhandlungen erheblich. In Deutschland wirkt der Gerichtssaal sachlich, aber würdevoll, und solange die Schuld des Angeklagten nicht bewiesen ist, darf er sich relativ frei fühlen. In Georgien verbringt der Beschuldigte die Verhandlung bisweilen in einer Art Käfig stehend hinter Gittern. Die Gerichtsräume sind dunkel, unbeheizt und schmutzig.
Inhaltlich sind sich das georgische und deutsche Rechtssystem jedoch ähnlicher als man denkt. Als Georgien sich nach dem Zusammenbruch der Sowjet-union eine neue Rechtsprechung gegeben hat, haben sich die Verfassungsväter nach Vorbildern umgeschaut. Die Verbindung Deutschlands zu Georgien war damals sehr eng. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat deutsche Rechtsexperten für Beratungen in die georgische Hauptstadt Tiflis geschickt. Umgekehrt haben sich die Georgier in Deutschland informiert. Lado Chanturia, der von 1998 bis 1999 Justizminister und von 1999 bis 2004 Präsident des Obersten Gerichtshofes war und das georgische Zivilgesetzbuch verfasste, hat sogar zwei Jahre in Göttingen Jura studiert.
Das georgische Rechtssystem trägt daher deutsche Züge. Doch das könnte sich bald ändern, wenn es nach dem Willen der jungen Regierenden in Tiflis geht. "Wir werden einige bahnbrechenden Änderungen im Rechtswesen vornehmen. Wir werden ein Geschworenengericht einführen", sagt der stellvertretende Leiter des parlamentarischen Rechtsausschusses Giga Bokeria. Das heißt: Geschworene und nicht die Richter werden demnächst Recht sprechen. Das amerikanische Rechtssystem beispielsweise funktioniert so. Die Richter sind verantwortlich für den ordnungsgemäßen Ablauf der Verhandlung. Die Geschworenen fällen das Urteil.
"Dieses System gibt uns die einzigartige Möglichkeit, die Entfremdung zwischen Staat und Bevölkerung zu überwinden", sagt Giga Bokeria. "Im Moment können die Menschen mit unserem Rechtssystem nichts anfangen," erklärt er. "Es ist ihnen fremd, sie verstehen es nicht und sie haben kein Vertrauen. Aber die Geschworenen wären Leute aus dem Volk. Das heißt, jeder hat die Möglichkeit an der Rechtsprechung teilzunehmen, und damit rückt ihnen das jetzt noch abstrakte System näher."
Um als Geschworener zum Gericht berufen zu werden, braucht man in den USA keine juristische Ausbildung. Diejenigen, die Recht sprechen, sind Unbeteiligte aus dem Volk. Allerdings ist die Rechtskultur in den USA auch in der Bevölkerung gut entwickelt. In dem jungen Staat Georgien dagegen haben sich die Werte noch nicht gefestigt. Was recht oder unrecht ist, hat sich in den letzten Jahren zu oft gewandelt. Oft entscheiden Geldbeutel oder die Beziehungen darüber, wer einen Rechtsstreit am Ende gewinnt. "Wenn demnächst auch noch jeder Beliebige ein Urteil fällen kann, wird der Korruption Tür und Tor geöffnet," sagt ein Kritiker der Rechtsreform.
Gerade darüber, ob man mit einem Geschworenengericht die Korruption in Georgien besser oder schlechter bekämpfen kann, streiten sich die Politiker und Experten. "Mit einem Geschworenensystem werden wir endlich eine wirklich unabhängige Rechtsprechung in Georgien haben. Das jetzige System ist sehr viel anfälliger, was die Korruption angeht", sagt Giga Bokeria. "Richter sind Teil der intellektuellen Oberschicht. Sie können es sich leisten, korrupt zu sein. Aber Geschworene sind ganz normale Leute, die in die Umgebung, in der sie leben, zurückkehren und ganz normal weiterleben müssen."
Ein vertrauliches Gespräch mit einem Richter scheint seine Einschätzung zu bestätigen. "Wir bekommen oft Geld angeboten. Oder man ist über irgendwelche Ecken mit der Familie des Klägers oder des Angeklagten bekannt. Georgien ist klein, da kennt jeder jeden," erzählt er, bevor er hinzufügt: "Ich habe mich noch nie korrumpieren lassen. Aber ich glaube, dass es viele Kollegen getan haben."
Kritiker weisen allerdings darauf hin, dass Korruption keineswegs nur ein Problem der Beamten und Eliten ist. Jeder lasse sich von Geld oder dem Versuch der Einflussnahme verleiten, denn Vetternwirtschaft sei ein Teil des ganz normalen Lebens. In der Tat besteht die georgische Gesellschaft aus einem Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten. Egal was das Problem ist - ob man einen Job sucht, einen Studienplatz oder einfach nur eine Telefonnummer - bevor man den offiziellen Weg einschlägt, versucht man es lieber über Beziehungen. Bei nächster Gelegenheit muss man sich umgekehrt erkenntlich zeigen. Selbst wenn ein Geschworener also kein Geld annimmt, um vor Gericht vorteilhaft zu entscheiden - irgendeine Gefälligkeit ist er einer der Parteien bestimmt schuldig - oder einem seiner Freunde oder Verwandten.
Dem deutschen Rechtssystem den Rücken zuzukehren und sich dem amerikanischen anzunähern, könne auch einen anderen Hintergrund haben, vermuten Beobachter: Georgien wende sich politisch von Europa ab und setze stärker auf die Beziehungen zu den USA. In der Tat wurde schon die Rosenrevolution, die die derzeitige Regierung an die Macht gebracht hat, aus Amerika unterstützt. Der US-Milliardär George Soros hatte den georgischen Nichtregierungsorganisationen Geld für ihre Kampagnen zur Verfügung gestellt. Wie stark auch die amerikanische Regierung versucht, die derzeitige georgische Führungsmannschaft zu stützen, wurde nicht zuletzt während des Besuches von US-Präsident George Bush in Tiflis deutlich. Der Abstecher in die georgische Hauptstadt war gleich in mehrfacher Hinsicht eine symbolische Geste. George Bush kam nach Georgien, bevor er den russischen Präsidenten Putin in Moskau besuchte, und sprach dem georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili Anerkennung für seine Leistungen für die Demokratie aus.
Vor allem junge Leute waren damals begeistert. Mittlerweile aber wächst in Georgien die Enttäuschung. Selbst ehemalige Anhänger Saakaschwilis kritisieren seine autoritäre und willkürliche Politik. In dieser Situation ist die Anerkennung Bushs für die georgische Regierung gleich doppelt so wichtig. Auch das war dem Besuch anzumerken. Schon Wochen vorher waren Kolonnen von Malern ins Zentrum von Tiflis geschickt worden, um die Häuser, an denen Präsident Bush vorbeiflanieren sollte, in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Die Bauwerke wurden nicht saniert, aber der Zerfall mit bunter Farbe übertüncht. Die Strasse zum Flughafen und entlang der Regierungsgebäude wurden neu geteert. Wo George Bush wann entlang fährt, halten die amerikanischen Behörden bei Staatsbesuchen zwar geheim. Aber wer wissen wolle, welche Route George Bush nach seiner Ankunft nehmen werde, müsse nur den neuen Strassen folgen, scherzten die Georgier.
Intern ist das Verhältnis zwischen Georgien und den USA nicht mehr so glänzend. Auch die amerikanischen Außenpolitiker kennen Michail Saakaschwilis Schwächen. Er neige zu Jähzorn und Selbstüberschätzung. Er provoziere die ethnischen Minderheiten, und mit seinen übereilten und undurchdachten Entscheidungen gefährde er das labile Kräftegleichgewicht zwischen den verschiedenen Interessengruppen im Lande. Darüber hinaus fordere er den starken Nachbarn Russland heraus. "Das ist etwas, was sich vielleicht unsere, die amerikanische Regierung leisten kann, aber nicht Georgien", betont ein außenpolitischer Experte, der ungenannt bleiben möchte.
Noch im Sommer letzten Jahres hat die georgische Regierung beispielsweise versucht, den Konflikt mit der abtrünnigen Provinz Südossetien durch hartes Durchgreifen von Polizei und Militär und ohne Absprache mit Russland zu beenden. Die internationale Gemeinschaft konnte einen erneuten Bürgerkrieg nur knapp verhindern. Die USA haben Saakaschwili bei dieser Gelegenheit unmissverständlich davor gewarnt, in Südossetien militärisch einzugreifen, heißt es in diplomatischen Kreisen. Dennoch drohen die georgischen Politiker den Separatisten bis heute.
Umso wichtiger mag es ihnen erscheinen, in anderer Hinsicht klare Zeichen in Richtung Amerika zu setzen. Das bislang europäisch geprägte Rechtssystem zu amerikanisieren, ist dabei allerdings nur scheinbar ein leichtes Opfer. Die georgische Wirtschaft liegt nach wie vor am Boden und ist auf ausländische Investitionen angewiesen. Woher sollen diese kommen? Für europäische Unternehmen liegt der Kaukasus viel näher als für amerikanische. Europäische Firmen müssten also eher in Georgien investieren als amerikanische. Dass sie dies bisher nicht getan haben, hängt nicht mit Ignoranz zusammen, sondern mit den schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen: Korruption, politische Willkür und ein desolater Absatzmarkt verhindern die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Wenn die europäischen Firmen sich nun noch mit einem fremden Rechtssystem konfrontiert sehen, könnte dies ihre Bereitschaft, sich zu engagieren, weiter schmälern. Es ist unwahrscheinlich, dass amerikanische Firmen die Lücke füllen. Trotzdem lässt sich die georgische Regierung derzeit nicht von der Rechtsreform abbringen.
Die deutsche Justizministerin Brigitte Zypries und ihr georgische Kollege Konstantin Kemulari haben im April dieses Jahres in Tiflis zwar vereinbart, die rechtliche Zusammenarbeit Deutschlands und Georgiens weiter zu fördern. Die Einführung des Geschworenengerichts ist aber bereits fest in der Verfassung verankert.