Jahrhundertelang standen die Sprachen in Konkurrenz zueinander: In den Schulen, Geschäften und auf der Straße sprachen die Rigenser Deutsch. Zuhause entfaltete sich das Leben in lettischer Sprache, Gerichte und kommunale Behörden verhandelten auf Russisch. Bis 1870, mit Ausnahme der so genannten "Polnischen Zeiten" (1582 - 1621), war dies so. Riga an sich war eine deutsche Stadt, und als solche gehörte sie verwaltungstechnisch zur Ostseeprovinz, dem Gouvernement Livland des Russischen Reiches.
Hier, im administrativen Zentrum, welches für Estland, Livland und Kurland zuständig war, lebten in der Mitte des 19. Jahrhunderts 66.000 Einwohner. Eine Telegrafenverbindung existierte, wenn überhaupt, nur mit der Hauptstadt St. Petersburg. In der Stadtverordnetenversammlung Rigas von 1878 verfügten die Deutschen über 64 Sitze, die Russen über vier, die Letten und die Juden über jeweils zwei Sitze. Auch wenn das deutsche Bürgertum in der Stadt als federführend galt und zahlenmäßig die russische Population überragte, kam es allmählich zur Stärkung der nationalen russischen Identität. Dies geschah parallel zur Verkündung des Manifests von 1905 durch Kaiser Nikolaus II., demzufolge er das Zarenreich in eine konstitutionelle Monarchie umzuwandeln versprach.
Die Rigaer Variante des Strebens nach Teilnahme am politischen Leben verlief nicht in separierter Form, sondern durch die Einbeziehung weiterer Minderheiten. Diese Angelegenheit inspirierte die Gründung der Konstitutionell-Demokratischen Partei, der Kadetten. Der politisch denkenden Intelligenz war klar, dass die seit den 80er-Jahren betriebene Russifizierungspolitik in Riga enorme Schäden verursacht hatte.
Die Einführung der russischen Unterrichtsprache sorgte, statt die Gemeinsamkeiten zu fördern, für Spaltungen zwischen den Minderheiten. Die zur autochthonen Bevölkerung zählenden Letten galten zwar als Vorbilder an Unternehmensgeist, sahen sich jedoch infolge ihres schwachen Bildungsniveaus zunächst an die Peripherie der Gesellschaft gedrängt.
Eine Veränderung erfolgte erst mit der durch die Revolution von 1905 erzwungenen Liberalisierung. In diesem Jahr erschienen (nebst den deutschen und russischen) die ersten lettischen Straßenschilder. Das Vereinsleben und die kulturellen Aktivitäten der Letten nahmen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges greifbare Formen an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten sich die Letten in ihrer 270.000 Einwohner zählenden "lettischen" Stadt und nicht mehr nur in dem traditionellen lettischen Stadtteil Mitauer Vorstadt heimisch fühlen. Sie verfügten über eine eigene Zeitung, und der Komponist Karlis Baumanis hatte bereits die spätere Nationalhymne von 1918 verfasst.
Das vorliegende Handbuch ist ein gründlich recherchiertes Werk, welches Riga von 1857 bis 1914 in seiner ganzen kulturellen und ethnischen Vielfalt lebendig darstellt. Fünf lettische und zwei deutsche Historikerinnen und Historiker widmen sich den führenden ethnischen Gruppen der Stadt: den Letten, Deutschen, Russen, Juden, Polen, Litauern und Esten. Durch die spannenden Beschreibungen und zahlreichen Originalzitate und -zeitungsausschnitte wird das damalige Alltagsleben in der lettischen Hauptstadt wieder zum Leben erweckt. Die Portraits verleiten zu dem Eindruck, dass die multinationale baltische Metropole gleichzeitig allen ihren Bürgern ein Zuhause bot, wobei die Demarkationslinien zwischen den Bevölkerungsgruppen fließend waren. Sie alle betrachteten bis 1914 die eigene Sprache im Grunde als Landessprache. Die Stadt wuchs damals zu einem wichtigen Industrie- und Handelszentrum des Russischen Reiches heran. Zu diesem enormen Aufschwung haben alle Rigenser beigetragen.
Erwin Oberländer und Kristine Wohlfart (Hrsg.)
Riga. Portrait einer Vielvölkerstadt am Rande des Zarenreiches 1857 - 1914.
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2004; 273 S., 24,90 Euro