Mit eindringlicher Stimme appelliert im weiten Halbrund des Plenarsaals im Palais d'Europe Carina Ohlsson an ihre Kollegen aus 46 Staaten zwischen Atlantik und Kaukasus: "Wir als Abgeordnete müssen uns zu Hause in den nationalen Volksvertretungen stärker für den Europarat einsetzen!" Die schwedische Politikerin: "Es liegt viel Arbeit vor uns." Der Holländer Tiny Kox assistiert: "Im niederländischen Parlament wollen wir künftig wenigstens ein Mal jährlich über den Staatenbund diskutieren." Viele Regierungen, klagt der Deputierte aus Den Haag, seien "nicht wirklich von der Bedeutung des Europarats überzeugt". Als "unverzichtbar" bezeichnet Andrzej Wielowieyski die internationale Organisation in Straßburg. Dass jedoch jüngst zum Europarats-Gipfel in Warschau die meisten Regenten des Kontinents gar nicht erst anreisten, sei schon ein Zeichen für "Schwäche", bedauert der Abgesandte aus Polen. Der Belgier Luc van den Brande bemängelt ebenfalls das Fehlen "wichtiger Staatschefs" in der polnischen Hauptstadt. Die Medienresonanz auf dieses aufwändig vorbereitete Meeting war im Übrigen in vielen Ländern nicht gerade überwältigend. Immerhin sorgte die Stippvisite von Kanzler Gerhard Schröder in Warschau hierzulande für Berichte in den Medien.
Als jetzt die Parlamentarische Versammlung des Staatenbunds bei ihrer Sommersession die Konsequenzen des Gipfels erörtert, wird das Spitzentreffen in Polen natürlich als Erfolg, als Aufbruch zu neuen Ufern beschworen. Aber diese Debatte offenbart auch die Sorge über die Zukunft des der Durchsetzung von Menschenrechten und demokratischer Rechtsstaatlichkeit verpflichteten Europarats. Es ist unverkennbar: Die 1949 gegründete und damit älteste europäische Institution sucht im Geflecht der gewandelten internationalen Architektur zwischen EU, OSZE, Westeuropäischer Union und auch NATO nach einer neuen Rolle. Man könnte es auch so formulieren: Im Palais d'Europe kämpft man gegen die Gefahr eines Bedeutungsverlusts. Vor allem der Machtzuwachs Brüssels im Zuge der Ausdehnung auf nunmehr 25 Mitgliedsländer sowie die EU-Erweiterungspläne in Richtung Rumänien, Bulgarien, Kroatien und Türkei rücken Straßburg zusehends in den Hintergrund: Auf dem Kontinent deckt die Europäische Union mittlerweile eben vieles ab.
Rudolf Bindig, der seit 1988 in der Deputiertenkammer des Europarats sitzt und dort derzeit die 18-köpfige Bundestagsdelegation leitet, zählt zu den besten Kennern der altehrwürdigen Organisation. In seinem Berliner Büro sinniert der SPD-Politiker über Standort und Einfluss des Straßburger Staatenbunds.
Sicher, es sei nicht von der Hand zu weisen, dass der Europarat "in gewisser Weise zwischen EU und OSZE eingezwängt wird". Gleichwohl schaut Bindig optimistisch in die Zukunft, besonders im Blick auf Osteuropa: In jener Region hätten viele Staaten auf lange Sicht keine Chance, in die EU aufgenommen zu werden, für diese Nationen werde das Palais d'Europe das Forum für die Zugehörigkeit zu Europa bleiben. Zudem seien im Osten des Kontinents Herausforderungen wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, unabhängige Justiz oder Medienfreiheit noch keineswegs wirklich gemeistert, "das ist noch eine ziemliche Baustelle". Die Parlamentarische Versammlung, der Menschenrechtsgerichtshof, der Menschenrechtskommissar, das Anti-Folter-Komitee, die "Venedig-Kommission" als Verfassungsausschuss und andere Einrichtungen des Staatenbunds hätten in jenen Gefilden noch viel zu tun. Bindig: "In der öffentlichen Wahrnehmung wird der Europarat oft unterschätzt, aber er spielt politisch eine markante Rolle."
Allerdings sieht sich Straßburg auch in Osteuropa zuweilen in die Defensive gedrängt, wie das Beispiel Ukraine zeigt. Die aufregenden Umsturzwochen von Kiew mit den Massendemonstrationen sind noch frisch in Erinnerung: Viktor Juschtschenkow gewinnt den Kampf um die Macht gegen das Ancien Régime. Viele mischen in jenen Tagen mit, Russlands Präsident Wladimir Putin, die USA, Anrainerstaaten wie Polen, auch EU-"Außenminister" Solana klinkt sich vor Ort ein. Einer indes bleibt in den Stunden der Entscheidung außen vor: der Europarat. "Wir wurden gezielt ausgebremst, von wem auch immer", sagt Bindig.
Im Palais d'Europe empfand man das Herausdrängen gerade in diesem Fall als bitter: Schließlich hatte Straßburg durch zahlreiche kritische Berichte über die autokratische Herrschaft von Ex-Präsident Leonid Kutschma, über die Gängelung der Medien, über den Mord an dem Journalisten Georgi Gongadse, über die Benachteiligung der Opposition oder über die Verfilzung von wirtschaftlicher und politischer Macht den Gärungsprozess in dem Land wesentlich beflügelt. Der Europarat ist bislang auch die einzige internationale Instanz, die Juschtschenkow nachdrücklich auffordert, seine demokratischen Versprechungen konkret in politische Reformen umzumünzen - die nämlich sind bislang weithin ausgeblieben. Stattdessen konzentrieren sich der neue Präsident, der immerhin dem Warschauer Gipfel seine Reverenz erwies, und seine Entourage nun darauf, die Ukraine möglichst bald in die EU und die NATO zu führen.
Seine große Zeit hatte der Europarat, der bis zur historischen Zäsur 89/90 vornehmlich ein gepflegter Debattierclub westlicher Politiker war, in den 90er-Jahren: Als "Schule der Demokratie" (Bindig) setzte Straßburg nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Mittel- und Osteuropa Grundprinzipien demokratischer Rechtsstaatlichkeit durch. Für jene Länder war die Aufnahme ins Palais d'Europe der erste Schritt in die "europäische Familie". Für die heutigen EU-Neumitglieder diente der Europarat als eine Art "Durchlauferhitzer" auf dem Weg nach Brüssel, wo man zuerst einmal das von Straßburg verliehene demokratische Gütesiegel sehen wollte: Der paneuropäische Staatenbund akzeptiert schließlich nur jene, die sich zur Anerkennung der Menschenrechtscharta verpflichten. Seit der Zugehörigkeit zur EU, anders als Straßburg eine gewaltige Geldumverteilungsmaschine, ist das Interesse mancher östlicher Nationen am Europarat etwas abgeflaut.
Die Berichte der Parlamentarischen Versammlung über die Lage in einzelnen Ländern sind oft von hoher substanzieller und kritischer Qualität. Volksvertretungen wie Außenministerien auf nationaler Ebene und selbst die EU stützen sich nicht selten auf solche Studien. Als eindrucksvolle Beispiele können mehrere fundierte Analysen über die Situation in Russland und Tschetschenien gelten, die Rudolf Bindig wesentlich mit erarbeitet hat. Die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ein anderes Beispiel, formulierte für den Europarat eine fulminante Kritik an den rechtsstaatlichen Verstößen während des Jukos-Prozesses gegen den Ölmagnaten Michail Chodorkowski - keine andere internationale Institution hat Vergleichbares vorgelegt. Die grüne Abgeordnete Marianne Tritz präsentierte dieser Tage eine umfassende Bestandsaufnahme der fragilen Lage im Kosovo.
In den betroffenen Ländern sorgen diese Straßburger Resolutionen durchaus für Aufsehen. Freilich mangelt es an der konsequenten Umsetzung der politischen Forderungen durch die Adressaten der Kritik: Im Kaukasus wird immer noch ein grausamer Krieg geführt, in Russland baut Putin trotz des Protests des Europarats seine autokratische Herrschaft stetig aus, dem verurteilten Chodorkowski half die Straßburger Intervention ebenfalls nichts. Expertisen über westliche Länder, etwa über die Zustände in Gefängnissen diverser Staaten oder über Silvio Berlusconis politisch-mediale Macht in Italien, finden ebenfalls meist keinen starken Widerhall. Jedoch sind auch Erfolge zu vermelden: So hat das hartnäckige Anprangern von Missständen in der Türkei Reformen bei der dortigen Polizei und Justiz beschleunigt.
Dem Europarat fehlt nun mal die Macht, seine Politik in den Mitgliedsnationen zu exekutieren. Einmal entzog die Parlamentarische Versammlung der russischen Delegation wegen der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien vorübergehend das Stimmrecht. Ansonsten bleibt bei gravierenden Verstößen gegen demokratisch-rechtsstaatliche Normen als einzige echte Sanktion nur der Ausschluss aus dem Staatenbund: Vor solch einem radikalen und spektakulären Schritt schreckt man verständlicherweise zurück.
Als Präsident der gesamteuropäischen Volksvertretung ruft René van der Linden die Deputierten immer mal wieder auf, ihr Doppelmandat in heimischen Parlamenten und in Straßburg zu nutzen, um in ihren Ländern den Europarat besser zur Geltung zu bringen: "Mit diesem Pfund müssen wir stärker wuchern." Mit diesem Plädoyer legt der Holländer den Finger in eine Wunde: In den meisten nationalen Abgeordnetenhäusern spielt der Staatenbund nur eine geringe Rolle. Matthias Wissmann führt Klage, dass auch im Bundestag Europa bislang nicht gerade ein Top-Thema ist: Diese Feststellung des Vorsitzenden des Europa-Ausschusses gilt für die EU und natürlich erst recht für den Europarat.
Ernsthaft anpacken will man nun im Palais d'Europe eine bessere Abstimmung mit EU und OSZE. Gespräche zwischen diesen Organisationen finden auf verschiedenen Ebenen häufig statt, wobei sich besonders der Europarat international entschiedener ins Spiel zu bringen versucht. Schicken OSZE und Europarat gemeinsam Wahlbeobachter auf den Balkan, nach Moldawien oder Georgien, so pflegt bei der Bilanz dieser Missionen in den Medien in erster Linie die OSZE zu Wort zu kommen.
Große Hoffnungen ruhen auf einem neuen Konzept über die Beziehungen zwischen EU und Europarat, das momentan der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker erarbeitet. Nicht zuletzt geht es darum, "Doppeltätigkeiten" zwischen Brüssel und Straßburg zu vermeiden. Van der Linden appelliert an die EU, die Instrumente des Europarats beim Engagement für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit intensiver zu nutzen - etwa die parlamentarischen Überwachungsverfahren in einzelnen Nationen (Monitoring), das Anti-Folterkomitee oder die Venedig-Kommission mit ihren Verfassungsjuristen. Warum soll Brüssel auf diesem Feld zusätzlich eigene Einrichtungen schaffen? Vor allem fragt van der Linden nach dem Sinn der neuen Menschenrechts-Agentur der EU angesichts der vielfältigen Aktivitäten des Europarats in diesem Bereich.
In gewisser Weise stärken die Krise um die EU-Verfassung und die sich abzeichnende Verlangsamung bei der geplanten Ausdehnung der Brüsseler Gemeinschaft den Straßburger Staatenbund: Die Menschenrechtskonvention des Europarats dürfte auf absehbare Zeit die einzige international verbindliche Charta der Grundrechte auf dem Kontinent bleiben - die von den Bürgern beim Straßburger Gerichtshof auch eingeklagt werden können. Und solange ein Land nicht der EU angehört, ist es eben weiterhin auf den Europarat "angewiesen".
Auffallend ist, dass sich die altehrwürdige Organisation auch um neue Themenschwerpunkte bemüht. So ist zusehends nicht mehr nur von der um Demokratie und Rechtsstaat kreisenden Hauptaufgabe des Staatenbunds die Rede, sondern etwa auch vom Vorgehen gegen Terrorismus, organisierte Kriminalität und Geldwäsche. Ob man sich damit einen Gefallen tut, dürfte freilich dahinstehen: Von seiner ganzen Geschichte her gehört die Kriminalitätsbekämpfung eigentlich nicht zur Bestimmung des Europarats, dessen Kernauftrag seit jeher die Durchsetzung und Verteidigung freiheitlicher Bürgerrechte gegen undemokratische Macht ist. Im Übrigen hat das Palais d'Europe über die Verabschiedung von Konventionen hinaus gegenüber den Mitgliedsländern keine exekutiven Befugnisse etwa in Sachen Terrorismus.
Der britische Europarats-Generalsekretär Terry Davis will sich nun daran machen, die Beschlüsse des Warschauer Gipfels zu realisieren. So soll der Staatenbund ein "Forum über die Zukunft der Demokratie" ins Leben rufen. Eine noch zu benennende "Gruppe von Weisen" soll die Menschenrechtscharta weiterentwickeln. Auf dem Programm steht der Aufbau eines Zentrums für Fragen der kommunalen Demokratie. Von einer speziellen "Task Force" erwartet man Strategien für den sozialen Zusammenhalt auf dem Kontinent. Davis hofft, mit solchen Initiativen ein "neues Kapitel" für den Europarat aufschlagen zu können. Die neuen Gremien dürfen jedoch keine Foren für "ausufernde Debatten" werden, warnt der polnische Abgeordnete Wielowieyski, sonst drohten die frischen Impulse rasch wieder verloren zu gehen.
Jean-Claude Juncker, dessen Bericht über die Kooperation zwischen Brüssel und Straßburg mit Spannung entgegengefiebert wird, hat schon mal ein beruhigendes Versprechen gemacht, das man im Palais d'Europe gern hört: Die EU müsse "dem Europarat den Platz zugestehen, der ihm gebührt".