Weil das Verhalten der Menschen nicht durch eine angeborene, unveränderbare Antriebsstruktur von Instinkten, Trieben und Bedürfnissen gesteuert wird. Im Falle einer Instinktgebundenheit wären die Menschen auf wenige Verhaltensweisen festgelegt. Sie würden sich alle nahezu gleichartig verhalten. Der Mensch verfügt aber nur noch über einige Instinktreste, die keineswegs für eine überlebenstaugliche Verhaltenssteuerung ausreichen. Die somit bestehende große Lücke im Antriebsleben wird grundlegend durch das Lernen von Werten geschlossen, die sich im Verlaufe der Geschichte in den einzelnen Kulturen und Gesellschaften herausgebildet haben. Werte sind mit Gefühlen und Antriebskräften verbundene Vorstellungen über allgemeine Ziele, Orientierungsleitlinien und Maßstäbe. Werte sind um so stabiler, je mehr sie als absolut und selbstverständlich gelten und von den Gesellschaftsangehörigen verinnerlicht worden sind. Werte werden dann gleichsam unterbewusst und automatisch befolgt.
Nun leben wir heute in einer Zeit der beschleunigten sozialen und kulturellen Veränderungen, die einen entsprechend raschen Wertwandel beinhalten. Nach Auffassung des amerikanischen Wertwandelforschers Ronald Inglehart hat sich vor allem in hoch entwickelten Gesellschaften seit den 1960er-Jahren eine "stille Revolution" vollzogen: Getragen von nachwachsenden Generationen, die im Wohlstand aufgewachsen sind, hat sich eine Werteverschiebung ergeben, und zwar von den "materialistischen" zu den "postmaterialistischen Werten". Demzufolge sind Werte wie individuelle Selbstverwirklichung, Toleranz, Mitbestimmung und Lebensqualität aufgewertet worden. In ähnlicher Weise hat in Deutschland der Soziologe Helmut Klages einen "Wertwandlungsschub" festgestellt, der sich zwischen 1965 und 1975 abgespielt hat: Während überkommene "Pflicht- und Akzeptanzwerte" wie Disziplin, Gehorsam, Pflichterfüllung und Bescheidenheit eine gewisse Abschwächung erfahren haben, vollzog sich eine Aufwertung und Ausbreitung von "Selbstentfaltungswerten" wie Emanzipation, Ungebundenheit, Selbstverwirklichung und Partizipation.
Diese beiden bekannt gewordenen Forschungskonzepte beschränken sich aber nur auf Ausschnitte aus der Wertevielfalt und können nicht erklären, warum sich Anzeichen für einen folgenreichen Werteverfall mehren. Dieses Problem einer Werteverunsicherung oder gar eines -verfalls vergrößert sich nämlich mit der fortschreitenden Auflösung des bisherigen Selbstverständlichkeitscharakters von Werten - insbesondere durch die Intellektualisierung unserer Lebenswelt.
Da gelernte Werte grundlegend, allgemein und zentral unser Verhalten beeinflussen, ja weitgehend bestimmen, übt der Wertwandel sogar einen starken Einfluss auf das Verbraucherverhalten aus, und zwar direkt und auch indirekt: Im Zuge des Wertwandels der letzten Jahrzehnte sind individualistische Wertorientierungen immer mehr aufgewertet und verhaltenswirksam geworden. Demgemäß beanspruchen immer mehr Menschen möglichst viel persönliche Freiheit, Ungebundenheit, Selbstbestimmung und -entfaltung. Schließlich wollen sich Individualisten nicht mehr durch ein übergestülptes Wertsystem kommandieren lassen, sondern eigenständig für sich selber einen "Wertecocktail" schaffen. Infolge der enormen Aufwertung individualistischer Wertorientierungen ist dann der Einzelne auch als Verbraucher und Käufer selbstbewusster, kritischer, autonomer, wählerischer, unberechenbarer und weitaus weniger manipulierbar - wenn überhaupt. Er ist zunehmend "allergisch" gegenüber verführerischer Werbung und (vermeintlichen) Konsumzwängen. Die gesteigerte Wertschätzung einer unkonventionellen oder gar nonkonformistischen Lebensgestaltung macht den Individualisten immun gegenüber dem Bestreben, Sozialprestige durch einen aufwändigen statusorientierten Luxuskonsum gewinnen zu müssen. Statt eines "dicken Mercedes" reicht ihm zum Beispiel ein gebrauchter "Golf". Strapazierfähige Jeansbekleidung lässt ihn auf teure modische "Klamotten" verzichten. "Güterarmer" Freizeitgenuss ist ihm wichtiger als der Kauf und die Demonstration kostspieliger Luxusgüter. Die Ausbreitung werbe- und konsumkritischer Individualisten trägt erheblich zur Ausprägung einer wachstumshemmenden Nachfrageschwäche bei.
Infolge des Eintretens der naturzerstörerischen Umweltkrise in die öffentliche Diskussion sind ökologische Wertorientierungen - die zugleich neue Werte bilden - stark aufgewertet und zum Teil auch verhaltenswirksam geworden. Vor allem bei ökologisch engagierten Personenkreisen führten diese Wertorientierungen zu erheblichen Veränderungen des Kauf- und Konsumverhaltens: Verzicht auf Güter mit geringem Grundnutzen, Konsumeinschränkungen, möglichst lange Nutzung von Gütern, verstärkter Kauf von Secondhand-Produkten, Abwehr von Werbung und Verschwendungskonsum. So ist auch bemerkenswert, dass das Internetauktionsunternehmen Ebay Inc.
Umsätze und Gewinne gewaltig steigern konnte. Dieser Steigerung liegen allerdings auch die Renaissance der Sparsamkeit und die Wiederkehr des Mangels zugrunde.
Als Beispiel für eine sehr einflussstarke indirekte Auswirkung des Wertwandels auf die Nachfrage und den Konsum kann die katastrophale demografische Entwicklung in Deutschland und vergleichbaren Gesellschaften aufgetischt werden: Die geradezu revolutionär starke Aufwertung von individualistischen und hedonistischen Wertorientierungen, also von persönlicher Freiheit, Unabhängigkeit und Karriere, von Freizeit, Luxus, Bequemlichkeit und Lebensgenuss hat wesentlich zum übermäßigen Absacken der Geburtenrate beigetragen. Nun fehlen in der nachrückenden Generation pro Jahrgang mindestens 300.000 junge Erwachsene, die seit dem "Einbruch" der Geburtenrate um 1970 herum nicht geboren worden sind. Demzufolge haben wir viel zu wenige junge Menschen, die Familien und Haushalte begründen würden, die nachfragewillige Käufer für Möbel, Lampen, Küchengeräte, Kochtöpfe, Geschirr, Bettwäsche, Teppiche, Gardinen, Babyausstattung, Spielzeug wären. Stattdessen wachsen auf Seiten der Verbraucher immer mehr die Anteile der älteren und alten Menschen, die vor dem Problem der vollgestopften Eigenheime und Wohnungen stehen - eine bisher verkannte Konsumschranke. Sie unterliegen eher den emotional belastenden Anstrengungen des Aufräumens, Aussortierens und Wegwerfens. Für stärkere Nachfrage sorgen sie im Hinblick auf Medikamente, Gesundheitsartikel und medizinische Dienstleistungen. Viele haben schon keine Nachkommen mehr, die sie gerne finanziell unterstützen würden - vor allem dann, wenn Enkel den Senioren eine neue Sinnerfüllung bieten könnten.
Hinzu kommt: Viele wohlhabende ältere und alte Deutsche leben in anderen Ländern oder verbringen dort zumindest längere Zeitabschnitte - mit einer entsprechenden Verlagerung von Kaufkraft in das Ausland. Es bleibt noch empirisch zu untersuchen, inwieweit Einwanderer einen Ausgleich schaffen können - zumal sie überwiegend aus armen Gesellschaften stammen und großenteils durch unzureichende berufliche Qualifikation nur relativ geringe (Transfer-)Einkommen erzielen. Überdies wird von diesen Einkünften auch noch ein erheblicher Teil in die Herkunftsländer der Migranten überwiesen.
Abschließend kann nur kurz bemerkt werden: Langfristig werden allein schon ökologische Grenzen eine Konsumausweitung als Wachstumsmotor einschränken. Soll eine sich zunehmend beschleunigende Schrumpfung der Nachfrage und des Konsums verhindert werden, dann muss möglichst schnell eine Familien- und Gesellschaftspolitik aufgewertet und auch tatsächlich betrieben werden, die auf eine bestandssichernde Geburtenrate ausgerichtet ist.
Prof. Dr. Dr. Karl-Heinz-Hillmann lehrt an der Universität Würzburg Soziologie und ist Autor des Buches "Wertwandel", Carolus Verlag Würzburg 2003.