Wer gerecht sein will, braucht den Mut zur Veränderung", beschloss die SPD voriges Jahr - und verabschiedete die Agenda 2010. Doch mit den angekündigten "größten Sozialreformen in der Geschichte der Bundesrepublik" misslang Bundeskanzler Gerhard Schröder der Durchbruch. Seit er sich das neue Konzept im März 2003 auf die Fahnen schrieb, ging es für die Sozialdemokraten bergab.
Sonderparteitage, Mitgliederbegehren und Austrittswellen schockierten die Partei. Nach deprimierenden Meinungsumfragen setzte es empfindliche Wahlniederlagen - Schröder trat von der SPD-Spitze ab. Jetzt kündigt er an: "Die Regierung wird alles tun, dem Begriff Reform wieder einen guten Klang zu geben."
Das wird angesichts des massiven Widerstands in der Bevölkerung schwer genug. Hunderttausende demonstrierten am 1. Mai gegen den "Sozialkahlschlag" der Regierung. "Die Menschen sind sauer und haben Angst, weil sich die Maßnahmen der Agenda 2010 als reiner Sozialabbau ohne positive Wirkung erweisen", sagt DGB-Chef Michael Sommer. "Soziale Gerechtigkeit ist in Deutschland massiv verletzt", diagnostiziert Sven Giegold vom Anti-Globalisierungsnetz Attac.
Protest überall im Land - und die bange Frage, wann Veränderung, Reform oder Ungerechtigkeit einen selbst treffen. Die Menschen sind so verunsichert wie niemals zuvor in der Bundesrepublik. Anstatt zu konsumieren, legen sie ihr Geld auf die hohe Kante - die Sparquote kletterte von 9,6 Prozent Anfang 1999 auf 10,6 Prozent Ende 2003.
Was ist überhaupt noch eine Konstante, auf die sich die Bürger heutzutage verlassen können? Etwa Exportschlager aus Deutschland? Aktuell scheinen deutsche Unternehmen vor allem Arbeitsplätze zu exportieren, beispielsweise gen Osten in die hungrigen Volkswirtschaften der neuen EU-Mitglieder. Made in Germany? Autos, von denen jeder vermutet, sie entstünden in Deutschland, laufen längst im Ausland vom Band: der Opel Agila im polnischen Gleiwitz, der Audi TT im ungarischen Györ, der Porsche Cayenne im slowakischen Bratislava. Wachstum? Die durchschnittlichen Jahresraten fallen immer mickriger aus - von 2,8 Prozent in den 70ern über 2,6 Prozent in den 80ern bis auf 1,5 Prozent in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts.
Solange der Kuchen immer größer wurde, musste der Staat keinem etwas wegnehmen, wenn er etwas mehr verteilen wollte. Doch das Rezept, mithilfe von Wachstum umzuverteilen, hat ausgedient. Die Zeiten, in denen es unterm Strich allen immer besser ging, sind vorüber.
Mittlerweile lebt mehr als die Hälfte der Bürger von staatlichen Transfers - die Mehrheit konsumiert Leistungen, für die eine Minderheit aufkommen muss. Die öffentliche Hand beansprucht einen immer größeren Teil vom Kuchen. Derweil erweisen sich staatliche Angebote als mangelhaft - ob die vermeintlich sichere Rente oder das von der Pisa-Studie entzauberte Bildungssystem.
"Wer alles so lassen will, wie es ist", sagt der Kanzler, "wird am Ende nur noch den Mangel verteilen." Offensichtlich ist zuwenig von allem da, an das sich die Gesellschaft im Laufe kontinuierlicher Wohlstandsmehrung gewöhnt hatte. Viele Menschen sind verwundert oder sogar überfordert.
Was passiert da gerade? Wie kann der Staat angesichts derartiger Herausforderungen noch gestalten? Und was bedeutet das für einen Wert wie die soziale Gerechtigkeit, eine in Deutschland seit Jahrzehnten blanke Selbstverständlichkeit?
Was passiert da gerade? Zum einen ändern sich die Rahmenbedingungen massiv. Vehement peitscht die Globalisierung auf die Volkswirtschaften ein. Nie war Kapital so mobil wie heute - per Knopfdruck kann es jeder Anleger exakt dort auf der Welt einsetzen, wo er eine höhere Rendite erwartet. Nie aber auch war Wissen so mobil wie heute. Selbst die Arbeit von Programmierern, Ingenieuren und Steuerprüfern können Arbeitgeber an ferne Orte wie Indien oder Malaysia verlagern. Sogar Mediziner aus Übersee analysieren, Zehntausende Kilometer vom Patienten entfernt, Röntgenbilder aus Amerika oder Europa.
Zum anderen ändert sich Deutschland stärker denn je. Immer mehr Menschen sind arbeitslos, die Gesellschaft wird immer älter, es fallen immer höhere Gesundheitskosten an. Deswegen fressen die sozialen Sicherungssysteme - Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung - das Fundament auf, das sie dringend benötigen: die ökonomische Leistungsfähigkeit. Deutschland, einst wohlhabendste Volkswirtschaft in der Europäischen Union, liegt aktuell pro Kopf erstmals unter dem Durchschnitt der Wirtschaftsleistung der 15 alten EU-Länder.
Die Konflikte um knappere Mittel nehmen zu. Familien streiten mit Kinderlosen, Alte mit Jungen, Arbeitende mit Arbeitslosen. Seit Jahrzehnten hält sich die Geburtenrate in West-Deutschland bei 1,4 Kindern pro Frau. Zugleich werden die Menschen immer älter. Vor 40 Jahren waren erst 17 Prozent der Bevölkerung 60 Jahre oder älter, heute sind es 23 Prozent - und in 40 Jahren werden es bereits 40 Prozent sein. Immer weniger Jüngere müssen also immer mehr Ältere versorgen.
Die Folgen für die Krankenkassen und den Arbeitsmarkt sind immens. Bis 2050 wird sich nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts die Zahl der über 80-Jährigen mehr als verdreifachen - auf rund zehn Millionen. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung klettert von derzeit 40 auf 52 Jahre. Dem Arbeitsmarkt der Seniorenrepublik stehen dann nur noch 24 Millionen Menschen zur Verfügung - 16 Millionen weniger als heute.
Wie kann der Staat angesichts derartiger Herausforderungen noch gestalten? "Deutschland", formuliert Juergen Donges, der langjährige Vorsitzende des Sachverständigenrats der fünf Wirtschaftsweisen, "muss seine wirtschaftliche Dynamik wieder finden." Die Probleme sind lösbar, so demonstrieren Vorbilder für die Agenda 2010 auf der ganzen Welt. Wie sehr ihnen tatsächlich zu folgen ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber zumindest existieren funktionierende Konzepte.
Das England von Premierministerin Maggie Thatcher und die Vereinigten Staaten von Präsident Ronald Reagan präsentierten sich in den 80er-Jahren als müde Ökonomien. Drakonische Einschnitte, über die sich streiten lässt, verwandelten die Volkswirtschaften. Deregulierung, Privatisierungen und Steuersenkungen machten sie fit für die Zukunft. Bleibt die soziale Gerechtigkeit auf der Strecke, wenn es mehr Eigenvorsorge und Flexibilität gibt? Nicht unbedingt, lehren die in diesem Bereich unverdächtigen skandinavischen Wohlfahrtsstaaten.
Rigoros verordnete Schweden seinem öffentlichen Dienst einen harten Sparkurs. Die Reformer kürzten Arbeitslosen- und Krankengeld, Familienbeihilfen und Renten - bis vor wenigen Jahren hatte jeder Bürger Anspruch auf die steuerfinanzierte Volksrente. Die strikte Konsolidierung schafft Raum im Etat für Ausgaben in Bildung und Kinderbetreuung. Einerseits lassen sich solche Maßnahmen als Sozialabbau anprangern - andererseits verbessern sie der Gerechtigkeit für Familien.
Konsequent ging Dänemark den Beschäftigten an den Kragen und weichte den Kündigungsschutz auf. Nun stellen die Firmen schnell neue Mitarbeiter ein, und die Arbeitslosenquote halbierte sich gegenüber der Zeit vor dem radikalen Schnitt auf weniger als sechs Prozent. Einerseits Sozialabbau - andererseits Gerechtigkeit für Arbeitslose.
Karl Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, plädiert dafür, auch Errungenschaften auf den Prüfstand zu stellen. Maßstäbe verändern sich innerhalb einer Gesellschaft. "Soziale Gerechtigkeit ist nichts Statisches", sagt der Kardinal. "Eine Gesellschaft muss sich immer wieder vergewissern, was hier und jetzt gerecht ist."
Vieles ist hier und jetzt nicht mehr gerecht. Die schlecht verdienende Verkäuferin finanziert durch ihre Steuern das kostenlose Hochschulstudium ihres späteren gut verdienenden Chefs. Die Steuer auf Arbeitseinkommen beträgt bis zu 45 Prozent, während der Fiskus den Konsum nur mit höchstens 16 Prozent Mehrwertsteuer belegt.
Die staatliche Neuverschuldung der heutigen Generation bürdet Kindern und Kindeskindern eine erhebliche Hypothek auf, die ihren Lebensstandard erheblich begrenzen wird. Kinderreiche Wenigverdiener, so haben Wissenschaftler nachgewiesen, erzielen mit ihrer Arbeit kaum ein höheres Nettoeinkommen, als wenn sie Energie und Findigkeit dafür einsetzen, möglichst viel vom Staat zu kassieren. Wer das ändern will, muss sich mit etlichen Bürgern und ihren oft gut organisierten Lobbygruppen anlegen. Ihnen geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern um den Erhalt tradierter Privilegien. Solche Politik tut weh - kein Wunder, welchen Titel die niederländische Regierung für ihr Reformprogramm wählte: "Schmerzen für alle."
Aber in Deutschland ist das nicht anders: Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel warnt: "Es fehlt an verlässlicher Politik, die dem Einzelnen deutlich macht, dass seine Leistung und die Gegenleistung des Staates in einem gesunden Verhältnis stehen." Und FDP-Chef Guido Westerwelle sagt: "Wir sitzen alle in einem Boot, aber einige müssen auch rudern."
Sonst kommt das Boot nicht voran - oder kentert sogar. Die Deutschen müssen einsehen, dass sie heute den Preis der Unsicherheit zu bezahlen haben, um den kommenden Generationen einen trockenen Platz im Boot garantieren zu können.
Jobst-Hinrich Wiskow ist Redakteur des Wirtschaftsmagazins Capital in Köln.