Die Konsumgesellschaft ist paradox: Je mehr Wohlstand und Lebenserwartung steigen, desto schlechter geht es uns. Wir essen zu viel, bewegen uns zu wenig und sehen zu viel fern. Deswegen wird unser historisch einmaliges Konsumniveau für zahlreiche Probleme verantwortlich gemacht. Lehrer beklagen, ihre Schüler könnten sich kaum noch konzentrieren. Arbeitgeber bemängeln, das Vorwissen von Auszubildenden nehme rapide ab. Und Kulturpessimisten sehen überall Zeichen des Niedergangs: Vereinzelung, Verwahrlosung und zunehmende Kriminalität. Da liegt die Frage nahe, ob die Konsumgesellschaft ihre Kinder frisst.
Nun ist die Kritik am Konsum so alt wie er selbst. Sobald Menschen mehr verbrauchen, als zur Selbsterhaltung nötig ist, treten zugleich Warner auf, die zur Umkehr mahnen. Das war schon in der ersten Gesellschaftsordnung so, die breiten Kreisen ein Dasein über dem Existenzminimum erlaubte: Dem römischen Imperium. Die spätantike Literatur strotzt vor moralischen Traktaten, die den Sittenverfall geißelten und die Rückkehr zu den asketischen Idealen der Vorfahren empfahlen. Genützt hat es nichts: Anstatt die Mühen des Militärdiensts auf sich zu nehmen, heuerten die Römer der Kaiserzeit lieber ausländische Söldner an, um ungestört das Leben genießen zu können.
Von Cato über Savonarola und Robespierre bis zu Goebbels, der die Deutschen zu Eintopfsonntagen verdonnerte, haben Bußprediger ihre Völker zum Verzicht angehalten - stets vergebens. Die Ökonomen haben daher die Unfähigkeit, sich mit Wenigem zu begnügen, zur Basis ihrer Theorien gemacht. Sie lehren ausnahmslos, dass die materiellen Wünsche des Menschen prinzipiell unendlich sind. Das macht die Steigerung der Produktion erst möglich: In einer Subsistenzwirtschaft, in der jeder sich mit dem bescheidet, was er selbst erzeugt, gibt es kein Wachstum.
Zwar explodierte die wirtschaftliche Dynamik mit der Industrialisierung, doch von der Konsumgesellschaft ist erst seit dem Zweiten Weltkrieg die Rede: Ludwig Erhards Parole "Wohlstand für alle!" wurde zur politischen Maxime des Westens. Der entscheidende Impuls ging von den USA aus. Franklin D. Roosevelt zeigte mit seinem "New Deal", dass der Staat mit gesellschaftlicher Umverteilung und Investitionen Wirtschaftsleistung und Lebensqualität erhöhen kann: Der Wohlfahrtsstaat entstand. Mit der Amerikanisierung der Welt trat auch die Konsumgesellschaft ihren Siegeszug an. Ihre Attraktivität ist bis heute ungebrochen.
Skeptiker taten sie anfangs als "Wegwerfgesellschaft" ab. Seit sich das Konzept des Recyclings durchgesetzt hat, spricht man von "Überflussgesellschaft". Dahinter steckt nicht nur die Überzeugung, dass keiner die angebotene Fülle von Gütern wirklich braucht. Der Begriff enthält auch den Verdacht, dass schrankenloser Konsum den Menschen seelisch verkümmern lässt.
Der Mensch ist ein Mängelwesen, stellte Arnold Gehlen vor einem halben Jahrhundert fest: Alles, was er herstellt, soll dieses Defizit ausgleichen. Dabei geht die Erweiterung des Aktionsradius' mit körperlicher Entlastung einher. Die Maschine ersetzt die Handarbeit. Fernsehen gestattet dem Zuschauer, Augenzeuge des gezeigten Geschehens zu sein, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Allerdings wird das TV-Gerät seltener zur Information als zur Unterhaltung genutzt. Ähnliches gilt für die meisten Konsumgüter. Viele Autofahrten sind nicht notwendig, viele Computer werden nur zum Spielen angeschafft. Der Medienexperte Neil Postman kritisierte dies vor 20 Jahren mit der griffigen Formel: Wir amüsieren uns zu Tode.
Manche Psychologen sehen darin den Grund, warum vielen die Reifung zum Erwachsenen misslingt, sodass sie emotional auf dem Stand von Kindern
stecken bleiben. So behauptet der psychoanalytische Publizist Wolfgang Schmidbauer in seinem Buch "Jetzt haben, später zahlen", die zur Bewältigung des Lebens nötige Disziplin weiche allmählich kollektiver Regression. Er beobachtet bei seinen Patienten wachsende Ansprüche auf schnelle Befriedigung. Bleibe sie aus, könnten die Betroffenen mit Enttäuschungen immer schlechter umgehen: Ihre "Frustrationstoleranz" nehme ab. Anstatt sich jetzt anzustrengen, um später das Gewünschte zu erhalten, griffen sie zu unakzeptablen Mitteln: Die "Renaissance der Rache" mache das staatliche Gewaltmonopol wieder zunichte.
Laut Schmidbauer ist die Werbung daran schuld. Sie gaukle den Verbrauchern Genuss ohne Reue vor, ohne sie an die Kosten und Folgelasten ihres Konsums zu erinnern. Derart konditioniert, bildeten sie eine "Zapping-Mentalität" aus: Negatives werde ausgeblendet oder ignoriert, wie ein TV-Programm bei Nichtgefallen ausgeschaltet wird. Schmidbauer zögert nicht, einen "Faschismus der Waren" anzuprangern: "Das Prinzip, immer mehr vom ?Guten' selbst zu besitzen und alles ?Schlechte' nach außen zu verlegen, bestimmt die Konsumgesellschaft ebenso wie den Faschismus." Leidtragende dieses Gruppenegoismus' seien nicht nur die ausgebeuteten Massen der Dritten Welt, sondern zunehmend auch die Egoisten selbst.
Man kann diese Phänomene indes ganz anders bewerten. Systemtheoretiker fassen unsere Gesellschaft als Konglomerat von Kreisläufen auf, in denen der Einzelne als Handelnder unwichtig wird. Nach diesem Modell differenzieren sich die sozialen Teilbereiche immer stärker aus und folgen dabei allein ihrer Binnenlogik. In der Wirtschaft geht es ausschließlich um die Zirkulation des Geldes: Es ist egal, was produziert wird, solange es bezahlt wird und die Erlöse wieder reinvestiert werden. "Geld hat den einzigen Sinn, ausgegeben zu werden, weil es keinen eigenen Wert hat", betont der Philosoph Norbert Bolz. Anstatt die Besitzgier als Tanz ums goldene Kalb zu verdammen, preist er sie daher als Kitt, der die Gesellschaft im Innersten zusammenhält.
"Das konsumistische Manifest" heißt ironisch seine Streitschrift gegen Verzichtsethiker jeder Couleur. Die Anspielung auf das kommunistische Manifest von Marx und Engels hat einen Doppelsinn: Deren Prophezeiung sei eingetroffen, aber ohne das ihr innewohnende Glücksversprechen zu erfüllen. Die Monetarisierung menschlicher Beziehungen auf dem Markt sei eine wertvolle zivilisatorische Errungenschaft, versichert Bolz: "Was die guten Seelen der modernen Geldwirtschaft vorwerfen, ist ihre eigentliche Kulturleistung. Geld entlastet die Gesellschaft von Menschlichkeiten wie Hass und Gewalt. Wo Geld die Welt regiert, bleibt uns der Terror von nackter Faust und guter Gesinnung erspart."
Der Theoretiker geht so weit, den Finanzen eine quasi religiöse Funktion zuzusprechen: "Das Streben nach mehr Geld ermöglicht eine stabile Letztorientierung des Lebens, die auf ?authentische' Motive verzichten kann." Das ist nicht zynisch gemeint, sondern tröstend. Nachdem alle Ideologien und Utopien entwertet seien, so Bolz, könne nur noch der Konsumismus als ewiges Wechselspiel der Moden und Marken den sozialen Zusammenhalt gewährleisten. Aus dieser Perspektive ist Reklame keine verlogene Propaganda, sondern formuliert das Selbstverständnis der Gesellschaft: "Die Werbung produziert heute die Symbole, die das Soziale strukturieren. Sie entwickelt graphische Embleme, die sich in der Phantasie der Kunden ablagern und mit denen sie ihre Welt konstruieren."
Diese "Verzeitlichung der Wertorientierung" sei die angemessene Reaktion auf eine sich beschleunigende Lebenswelt: "Die Menschen entwickeln eine höhere Anpassungsfähigkeit an zukünftige Konstellationen." Allerdings leugnet der Philosoph nicht, dass viele von steigenden Anforderungen an ihre Flexibilität überfordert sind. Nur beeinträchtige das nicht die soziale Leistungsfähigkeit insgesamt: "Die Systeme haben längst die Akteure überholt. Dummheit und Fachwissen wachsen gleichzeitig wahnsinnig an."
Die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", die der Soziologe Helmut Schelsky vor vier Jahrzehnten konstatierte, spalte sich in eine bestens informierte und hocheffiziente Minderheit und eine unproduktive Mehrheit, die ertragen müsse, den Anschluss zu verlieren. Ob ihr das gelingt, sei für das Ganze unerheblich, hält Bolz nüchtern fest: "Unsere Gesellschaft funktioniert prächtig mit lauter unglücklichen Individuen."
Oliver Heilwagen ist freier Journalist.