Es gehört zur Routine eines Auslandskorrespondenten, alljährlich einen Abstecher zur Heimatredaktion zu unternehmen, um mit dem Chef die weitere Karriereplanung zu besprechen. Je älter ich werde, desto kürzer werden diese Gespräche. Immerhin verschafft mir der knappe Austausch - in welchem ich dem Chefredakteur kurz meinen Namen ins Gedächtnis rufe - zunehmend Gelegenheit, an diversen Dinnerpartys im feschen London teilzunehmen. Dort gibt es nur ein Thema - nicht den Irak oder den Niedergang Tony Blairs, sondern Immobilienpreise.
An dem Wert eines Hauses in England bemisst sich das Glück. Ein Eigenheim mit steigendem Wert symbolisiert für den gewöhnlichen Briten eine besondere Art des Erfolges. In einer nach wie vor von der gesellschaftlichen Klasse verkrusteten Nation beweist dies, dass der Hausbesitzer ein cleverer Investor ist. Die Investition gibt ihm Alterssicherheit, Zuversicht und ein Gesprächsthema, während er sich am Büfett über das Boeuf Bourguignon beugt. Natürlich ist das Glück eine relative Größe. Eine Studie der Universität Illinois unter 49 der vom Forbes-Magazine ermittelten 100 reichsten Amerikaner, ergab, dass sie nur unwesentlich glücklicher sind als der Durchschnitt.
Die Freude darüber, in einem Haus zu leben, welches den eigenen Reichtum nährt, währt nur so lange, wie dieser Reichtum den des Nachbarn übertrifft. Hausbesitz - auf der britischen Werte-Skala an dritter Stelle, nach Gesundheit und einer erfolgreichen Partnerschaft - avanciert zum Fetisch. In deutschen Supermärkten kauft man an der Kasse Magazine über Käsetorte; in England kauft man Magazine, in denen es um das Design von Wintergärten und Dachböden geht. Ich denke - ich weiß - mir ist die Käsetorte lieber.
Häuser sind ein Barometer des Wandels. Thomas Manns Buddenbrooks haben gezeigt, wie Werte im Laufe mehrerer Generationen verkommen oder sich entwickeln; Häuser überleben die Menschen in der Regel und sind somit in einer Zeit des globalen Aufruhrs Sinnbilder für Stabilität und Sicherheit. Kein Wunder also, dass die Engländer kürzlich unter großem Entsetzen eine nationale Debatte führten, angesichts der Tatsache, dass die Kosten für ein Kind von der Geburt bis zum Universitätsabschluss heute 164.000 britische Pfund betragen. Der Betrag entspricht etwa dem Preis eines Zweizimmer-Hauses in England. Was hätten Sie also gern: Ein Kind oder ein Haus? Ein Kind, das den Eltern eine lebenslange Verantwortung auferlegt und die berufliche Entscheidungsfreiheit begrenzt, oder ein Haus, das seinem Besitzer Reichtum beschert und den Weg in die Bourgeoisie ebnet? Häuser nehmen keine Drogen, ihnen wird nicht auf Autofahrten schlecht; man kann sie verkaufen, wenn sie einem langweilig werden. Für den Preis, den es kostet, zwei Kinder großzuziehen, kann man im schönsten Teil Schottlands eine Farm kaufen oder eine große Villa in Spanien mit einem Swimming-Pool in olympischen Maßstäben. Dieser Wettbewerb zwischen materiellen und geistigen Werten klingt lächerlich, aber es ist tatsächlich der Treibstoff, der in England eine intellektuelle Debatte entzündete.
Die finanzielle Logik, keine Kinder zu haben, hat den natürlichen Drang zur Elternschaft überrumpelt. "Betrachte das Ganze mal anders", sagt mein 51 Jahre alter Freund, der Journalist Simon Freeman, "der normale gesellschaftliche Werdegang in London sieht heute so aus: Mit Anfang 20 kaufst du eine kleine Wohnung, denn kaufen ist billiger als mieten. Dann triffst du die Frau deiner Träume, ihr teilt eure Einkommen und kauft gemeinsam ein größeres Haus. Du fühlst dich reich, frei und individuell. Sobald das erste Kind kommt, geht es bergab. Ihr zieht in eine Gegend, in der es eine gute Schule gibt - mit wesentlich höheren Grundstückspreisen. Euer großes Haus wird also für ein kleines eingetauscht. Das heranwachsende Kind stellt Ansprüche an das, was du zuvor frei verwalten konntest, Raum, Zeit und Geld. Die Beziehung leidet. Möglicherweise endet ihr vor dem Scheidungsrichter. Ihr teilt das Kind, das Haus: am Ende bist du ärmer und unglücklicher, weil du die falsche Wahl getroffen hast." Freeman ist ein geschiedener Vater.
Ich bin froh, berichten zu dürfen, dass die Deutschen von dem britischen Haus-Fetisch noch nicht erfasst wurden. Sie zeigen sich jedoch angesichts konkurrierender Werte ebenfalls verwirrt. Der Roman "Durst" behandelt die wahre Geschichte einer jungen Mutter, die ihre Kinder dem Hungertod überlassen hat, während sie selbst in den Urlaub gefahren ist. Dieses furchtbare Drama ist Gott sei Dank eine Anomalie. In zugespitzter Form zeigt es aber, wie weit die Obsession mit der persönlichen Freiheit führen kann: die Freiheit zu entspannen, die Freiheit, Geld für Klamotten auszugeben, wechselnde Partner zu haben; all dies sind sekundäre Werte. Doch in einer Gesellschaft, die auf bestem Wege ist, ihren moralischen Kompass zu verlieren, tendieren sie dazu, den Blick auf das Wesentliche zu versperren. Das westliche Paradox ist das Folgende: Einerseits wird das Kind zum Konsumenten erzogen, frühzeitig sexualisiert und kommerzialisiert, ein Interesseobjekt für Schuh- und Jeanshersteller, für die Musikindustrie, für Videospiel-Produzenten und Telefongesellschaften. Andererseits ist das Kind ein Störfaktor, eine Unannehmlichkeit in einer Welt, die das Angenehme zur Priorität erhoben hat. "Kinder machen dich langsamer", erzählt mir eine Hamburgerin um die 30. Klar tun sie das: Aber eine Gesellschaft, die sich in unterschiedlichen Schritttempi bewegt, ist die einzige, in der es sich zu leben lohnt. Langsam ist gut. Die Urbanisierung hat in Deutschland die Sicht auf die Welt verzerrt - selbst die deutschen Bauernhöfe sehen heute aus wie Fabriken. Um wertvoll zu sein, muss ein Mann beziehungsweise eine Frau schneller sein als der eigene Schatten. Angelsächsische Arbeitsgewohnheiten - Entscheidungsfindung von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang - schleichen sich ein. Der uralte Rhythmus der bäuerlichen Dorfgemeinschaften gerät in Vergessenheit; die Menschen bemerken kaum den Wandel der Jahreszeiten. Ungewöhnlich viele Kinder werden in den Monaten Juli und August gezeugt. Warum? Ich wette, die Deutschen erinnern sich während ihrer Reisen in die Toskana oder nach Andalusien an ihre Sexualität und an ihren Kinderwunsch; die Langsamkeit ist verführerisch. In der Zwischenzeit scheinen sich die Deutschen mit ihren Hunden zu begnügen. Nicht einmal unter den Engländern, die für ihre obsessive Hundeleidenschaft bekannt sind, habe ich eine so deutliche gesellschaftliche Bevorzugung von Hunden gegenüber Kindern erlebt. Es gibt Hunde-Supermärkte - der in der Berliner Forckenbecker Straße führt Wasserbettten und sexy Unterwäsche -, es gibt Hunde-Juwelen und Wellness-Center für Hunde inklusive Whirlpool und Cocktails nach Wunsch. Wer einmal die Aufmacher des Boulevard-Blattes "BZ" genauer unter die Lupe genommen hat, wird feststellen, dass es dort mehr Artikel über Hunde als über Kinder gibt.
In ganz Westeuropa, aber vor allem in Deutschland und England, herrscht Verwirrung über die eigenen Werte. "Wir haben so viel", sagt Anne Lise Kjaer vom Think-Tank Kjaer Global, "in Zukunft wird es nicht mehr so sehr darum gehen, für was wir uns entscheiden, sondern vielmehr darum, was wir hinter uns lassen wollen." Die erfolgreichsten Fernsehserien sowohl in England als auch in Deutschland - Friends, GZSZ (Deutschland), Neighbours (England) - zeigen eine verloren gegangene Welt, in welcher sich die Menschen kümmern und Interesse aneinander bekunden. Bei Friends treffen junge, unverheiratete Menschen aus gescheiterten Familien aufeinander, sie lachen gemeinsam und lösen gemeinsam ihre Probleme. Bei Neighbours steht der Nachbar unangekündigt auf dem Flur, um sich Zucker zu borgen und den neuesten Tratsch auszutauschen. Draußen, in der wirklichen Welt, ist es viel kälter, viel abgeschiedener. Arbeitskollegen werden nur selten zu engen Freunden, Nachbarn ignorieren das schreiende Baby, Familien führen nur selten Gespräche während des Abendessens. Das Fernsehen bietet uns also diese verloren gegangene, fiktionale Welt von Kameradschaft und Wärme. Doch um uns daran zu erinnern, dass alles noch viel schlimmer sein könnte, tischt uns das Fernsehen dazu Big Brother und andere Reality-Shows auf. Der durchschnittliche Zuschauer ist folglich zwischen Utopie und Distopie hin- und hergerissen.
Möglicherweise ist die Anspannung in Deutschland stärker zu spüren als in anderen westeuropäischen Gesellschaften. Die deutsche Gesellschaft ist eine statische Gesellschaft. Die meisten Menschen entfernen sich in ihrem Leben nicht weit von ihrer Heimatstadt, und das System tut alles, um die Menschen an einem Ort festzunageln. Ein Kind im schulpflichtigen Alter von einem Bundesland in ein anderes umzusiedeln, bedeutet, einen bildungspolitischen Hindernisparcours zu bewältigen. Die Querelen um einen Telefonanschluss in einer neuen Wohnung sind zu einem nationalen Alptraum geworden. Möbellieferanten brauchen länger als in jedem anderen westeuropäischen Land. Weitaus besser ist es also, an ein und demselben Ort geboren zu sein, zu arbeiten und zu sterben. Dieses Land der kleinen Städte, so gewohnheitsmäßig träge und mit einem bürokratischen Übereifer, sollte ein Vorbild des Kommunitarismus sein. Es gibt durchaus noch Spuren - die Freiwillige Feuerwehr ist meine Lieblingsorganisation in Deutschland - aber im Ganzen betrachtet hat der politische Stillstand nur eine Art ethischen Stillstands bewirkt.
Gewählt wird zwischen Nike und Adidas, zwischen Coca Cola und Pepsi, zwischen Sat1 und RTL; die großen Entscheidungen werden außer acht gelassen, denn die Deutschen, und ebenso die Briten, verlieren ihr Vokabular für ethische Belange.
Am Horizont zeichnet sich, einfach gesagt, ein Vertrauens-Kollaps ab. Die Zukunft, so sie überhaupt thematisiert wird, ist in England eine Frage von Immobilienpreisen (wie viel wird mein Haus wert sein, wenn ich einmal 65 bin) und in Deutschland eine Frage der Altersvorsorge.
In anderen Zeitaltern bedeutete die Frage nach der Zukunft noch ein Nachdenken darüber, welche gesellschaftliche Form erstrebenswert war. Was wünschen wir uns für das Leben unserer Kinder? Zufriedenheit mit sich selbst und der Welt? Wenn ja, wie lässt sich dieses Ziel erreichen? Welche Werte sind grundlegend?
Die Einstellung der Gesellschaft gegenüber Steuern ist ein Maßstab unseres gegenwärtigen Versagens. Das Steuersystem, gerecht und transparent, war einst der Grundpfeiler eines zivilisierten Lebens, Steuerzahlungen unser Beitrag für die Gemeinschaft. Heute gelten Steuern als teuflisches Element der Gesellschaft. Regierungen erhöhen die Steuern, entweder um ihre Inkompetenz zu kaschieren oder um eine Gesellschaft zu lenken. Die jüngste Absurdität aus Blairs Strategy Unit ist eine Besteuerung fetthaltiger Lebensmittel, um Fettleibigkeit entgegenzuwirken (Vollmilch würde demnach vermutlich höher besteuert als Magermilch). Der Grundgedanke des Steuersystems wird missbraucht. Wir sollten gemeinsam darüber reden, wie wir uns unsere Gesellschaft vorstellen und welche Kosten mit diesen Vorstellungen verbunden sind. Stattdessen findet eine allgemeine Entmündigung der Bürger statt, und tiefe Ratlosigkeit herrscht über die Frage, was uns am wichtigsten ist.
Unsere Enkel werden sich an diese Zeit als "die zynischen Jahre" erinnern: Der historische Moment, als der Westen seinen Sinn für die westlichen Werte verlor. Oscar Wilde hat uns erklärt, dass der Zyniker für alles den Preis und von nichts den Wert kennt. Ist das nicht erschreckend?
Roger Boyes ist Korrespondent von The Times, London, in Berlin.