An den 68ern haben sich viele gerieben in den vergangenen Jahrzehnten - zuerst die Väter und die älteren Brüder, später dann die eigenen Kinder. In jüngerer Zeit war bereits die schiere Allgegenwart der Vertreter dieser Generation an allen Schaltstellen der Gesellschaft genug, um den Verdruss der Nachgeborenen auszulösen. Doch inzwischen geht die Zeit der üblichen (und üblicherweise ganz wirkungslosen) Empörungen dieser Art zu Ende. Denn der Abstieg der 68er von den Kommandohöhen der Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur rückt unweigerlich näher. Wie auch immer beispielsweise die Bundestagswahl im Jahr 2006 ausgeht: Die kollektive Ablösung der in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren im Geist der "neuen Linken" sozialisierten Jahrgänge, aus denen sich die politischen Eliten dieser Republik derzeit noch rekrutieren, wird dann nicht mehr abzuwenden sein.
Na und? Für sich genommen wäre das tatsächlich wenig bemerkenswert - hätten nicht die 68er mit ihren generationsspezifischen Ideen und Vorlieben das politische, gesellschaftliche und kulturelle Klima in Deutschland so lange und so gründlich geprägt. In vieler Hinsicht tun sie das noch immer. Vor allem: Man darf schon heute sicher sein, dass die 68er bis weit hinein ins 21. Jahrhundert als rüstige Rentner alles daran setzen werden, den Diskurs der Berliner Republik zu dominieren - und sei es als rastlose Leserbriefschreiber vom Alterssitz bei Siena aus. Selbstgerecht wie eh und je, werden die Wortführer der 68er auch im Ruhestand schwerlich bereit sein, die Definitionshoheit über die Lebensleistung ihrer Generation ohne weiteres aus der Hand geben.
Im Gegenteil, über die historische Deutung ihrer selbst und ihrer Ära werden die 68er wachen wie die Schießhunde, solange sie noch irgend können. Interventionen wie das unlängst erschienene Buch "Die 68er: Biographie einer Generation" des 1944 geborenen Autors Jürgen Busche deuten an, wohin die Reise geht: Sogar die kritische Historisierung seiner selbst besorgt man in dieser Kohorte sicherheitshalber doch lieber in Eigenregie. Von den Jüngeren hingegen lassen sich gestandene 68er nur ungern berichtigen oder belehren - ebenso wenig wie einst in ihrer eigenen Jugend von den Älteren. Sofern es überhaupt eine Konstante im Leben dieser dominanten Generation gibt, so dürfte sie vor allem in diesem lebenslang offensiv ausgelebten Gestus der Verständnislosigkeit gegenüber den Ansichten, Anliegen und Mentalitäten Andersaltriger liegen. "Die jungen Leute haben nichts mehr gelesen, es lohnt sich nicht, sich mit ihnen zu unterhalten", formuliert der 68er-Kritiker Jürgen Busche ein charakteristisches Ressentiment seiner Altersgenossen und fügt dann mit großer Selbstverständlichkeit hinzu: "Vielleicht war die 68er-Generation die letzte, die sich solches Reden leisten konnte - überheblich zwar, aber doch wahrheitsgemäß."
Wirklich? Was eigentlich liest der gemeine 68er heute so? Worauf ist er noch neugierig? Altersweisheit, das jedenfalls wird hier sofort klar, ist keine Disziplin, in der es die 68er sonderlich weit bringen werden. Stattdessen lässt sich heute mit einiger Sicherheit voraussagen, dass ihr bevorstehender Abgang sowie die Übernahme von Macht und Verantwortung durch Jüngere nicht in gegenseitigem Einvernehmen erfolgen werden. Vielmehr gehen die 68er in der Gewissheit von der Brücke, "es" noch immer besser zu wissen und zu können als ihre Nachfolger. Das gerade in der Sphäre der Politik schon seit langem höchst ungesellige Verhältnis zwischen 68ern und ihren voraussichtlichen Erben in den Institutionen und Organisationen dieser Republik dürfte sich in dem Maße nochmals drastisch verschlechtern und entfremden, wie die Jüngeren auf eigene Faust, aus eigenem Recht handeln und entscheiden müssen.
Es bedarf keiner kombinatorischen Begabung, um vorauszusagen, dass den meisten 68ern auf keinen Fall gefallen wird, was sie dann erleben müssen. Denn was immer die Zukunft im Einzelnen bringt: Aus der Perspektive der pensionierten Apo-Generation werden sich viele der kommenden Entwicklungen in Deutschland, Europa und der Welt in jedem Fall als politisches und kulturelles "Rollback" ausnehmen. Zwar ist die Verklärung der Vergangenheit ein universelles Phänomen: "Früher war mehr Lametta", wusste schon Opa Hoppenstedt. Doch gerade die 68er in Rente werden der Versuchung, das Gewesene im Rückblick zu idyllisieren, voraussichtlich noch viel weniger widerstehen können als andere Alterskohorten zuvor. Dass die in Jahrzehnten selbstlosen Kampfes erstrittene Liberalität und vorbildliche Sozialstaatlichkeit unserer Republik von einfältigen Nachfahren leichtsinnig wieder verspielt würden - so oder ähnlich wird schon bald der ständige Vorwurf an den Seniorenstammtischen dieses Landes lauten. Boshafte und wirklichkeitsautistische Zeitdiagnostik nach dem Muster Lafontaine wird in dem Maße rapide um sich greifen, wie immer mehr Altersgenossen des Saarländers a. D. ganz wie dieser beschäftigungslos im eigenen Saft schmoren.
Das dürften dann allerdings keine sonderlich guten Zeiten werden für unser Land. Eine gesellschaftliche Konstellation, in der sich ständig wachsende Zahlen mürrischer Veteranen fortwährend (und übrigens auch in ihrer Eigenschaft als Wähler) darin bestätigen, wie ungeheuer trostlos die von den Jüngeren administrierte Gegenwart im Vergleich zur vortrefflichen eigenen Vergangenheit sei, trüge kaum zur Bewältigung der ungeheuren Probleme bei, mit denen dieses Land im 21. Jahrhundert noch konfrontiert sein wird.
Genau deshalb kommt es jetzt schon darauf an, rechtzeitig vor wohlfeilen Mythen und bequemen Legenden zu warnen. Zweierlei sollte von vornherein klar sein: Zum einen haben nicht die in den kommenden Jahren in die Verantwortung tretenden Nachwuchskohorten, wie tapsig auch immer sie bisweilen noch agieren, jene Verhältnisse geschaffen, die sie jetzt von der abtretenden Generation der 68er übernehmen müssen. Zum anderen waren und sind diese Verhältnisse bei weitem nicht so golden und bewahrenswert, wie viele Angehörige der 68er Generation, den materiell sicheren Ruhestand vor Augen, sich selbst und anderen noch immer weismachen wollen.
Denn die bittere Wahrheit lautet: Die Welt der 68er ist schon heute völlig aus den Fugen, die Tagesordnung der Zukunft längst nicht mehr die ihre. Was viele 68er vor allem als politische und gesellschaftliche "Rückfälle" hinter das von ihnen - vermeintlich - Errungene deuten, ist in Wirklichkeit oft genug die Bemühung, Dinge überhaupt erst wieder in Stand zu setzen, die in der Ära der 68er auf bestürzende Weise zerfallen sind. Völlig unausweichlich ist, dass die kommenden Jahrzehnte ungemütlicher und anstrengender werden als die im historischen Vergleich beispiellos kommode zweite Halbzeit der Bonner Republik: Die internationale Lage verdüstert sich rapide, und die Einschläge kommen näher; in demografischer Perspektive sieht unsere Gesellschaft der sicheren Auszehrung entgegen; den Umbruch von der klassischen Industriemoderne zur lernenden Wissensgesellschaft hat Deutschland (im Unterschied zu vielen seiner Nachbarn) weder intellektuell verarbeitet noch gar bewältigt; in keinem vergleichbaren Land hängen die Bildungschancen von Kindern heute so sehr von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft ab; kein vergleichbares Land hat als Einwanderungsgesellschaft so grandios versagt wie unseres; ganze vormals industrielle Regionen Deutschlands sehen der umfassenden Entvölkerung entgegen. Aber das alles ist eben mitnichten die Folge irgendwelcher Versäumnisse und Regressionen politisch unreifer Nachwuchsgenerationen. Es ist das Ergebnis politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte. "Wir wollten wenigstens noch die Dritte Welt retten", mögen pensionierte 68er-Ministerinnen in Zukunft mit Blick auf ihre Nachfolger konstatieren. "Mag ja sein", müssten diese mit großem Ernst antworten, "aber erreicht habt Ihr das genaue Gegenteil."
Niemand sagt, die 68er hätten es nicht irgendwie gut gemeint - das Richtige gut gemacht haben sie allerdings viel zu wenig. Seiner Zukunft im 21. Jahrhundert geht Deutschland deshalb in unsicherem Zustand entgegen, nicht nur in struktureller Hinsicht. Fast schwerer noch wiegt die intellektuelle Saumseligkeit, mit der die Eliten dieses Landes in den vergangenen Jahrzehnten den intellektuellen Anschluss an die Wirklichkeit verpasst haben. Die Zukunft ist längst Gegenwart geworden, doch auch unter der Ägide der 68er ist Deutschland in den Paradigmen, Organisationsformen und Einstellungsmustern einer untergegangenen Industriemoderne stecken geblieben.
Das erscheint widersprüchlich. Stand denn nicht gerade die Generation von 1968 wie keine andere für entschlossenen Aufbruch und radikale Veränderung? Durchaus. Doch zeigt sich inzwischen eben nur zu deutlich, dass sich dieser Furor in vieler Hinsicht auch Tugenden und Verhaltensweisen, Prägungen und Normen abräumte oder diskreditierte, die uns heute helfen könnten, die Krise unseres Landes besser zu bewältigen. Der dramatisch neuen Wirklichkeit des
21. Jahrhunderts wird unsere Gesellschaft - paradox genug - nur dann gewachsen sein, wenn sie sich auf den Wert von Institutionen und Haltungen besinnt, die in der nun endenden Ära der 68er als entbehrlich, wo nicht gar als reaktionär galten. Stabile Familien und bürgerschaftliche Gemeinschaften von der Freiwilligen Feuerwehr bis zum Sportverein sind solche Institutionen, Verantwortung und Selbstverantwortung sind solche Tugenden - vermeintlich überkommen, mutmaßlich vorgestrig, tatsächlich moderner und wertvoller denn je. Weder der radikalisierte Individualismus der vergangenen Jahrzehnte noch die damit merkwürdig korrelierende Überzeugung, für die Produktion so grundlegender gesellschaftlicher Werte wie Gerechtigkeit oder Solidarität habe stets vor allem der Staat zuständig sein, hilft uns heute, den Problemen unserer Zeit gerecht zu werden. In der historischen Langfristperspektive jedenfalls zeigt sich: Der ursprünglich vorhandene Veränderungsdrang der Generation der 68er wies in höchst problematische Richtungen. Nicht mehr Gerechtigkeit und mehr Lebenschancen für mehr Menschen in einer dynamischen Gesellschaft waren die Folgen, sondern mehr Stillstand und mehr Beharrung in einem immer schwermütigeren Land.
Einfach weitermachen geht also nicht mehr. "Die grundlegendste politische Befreiung besteht darin, dass sich die Menschen vom unkritischen Festhalten an theoretischen oder ideologischen Schemata befreien und ihre Praxis auf die Grundlage ihrer eigenen Erfahrung stellen", schreibt der Soziologe Manuel Castells in seinem Buch über die Jahrtausendwende.
Die nun in den Ruhestand tretenden 68er haben zu ihrer Zeit viel von Emanzipation geredet, doch diese Befreiung im Sinne Castells haben sie nicht gewollt und nicht betrieben. Umso schwerer wiegt die Last, die sie ihren Erben hinterlassen werden. Wer immer den Versuch, diese Hypothek abzutragen, künftig als "Roll-back" hinter angeblich Erreichtes und Errungenes denunzieren wollte, bewiese damit doch nur, dass er weder das 20. noch das 21. Jahrhundert verstanden hat.
Tobias Dürr ist Chefredakteur der Zeitschrift "Berliner Republik".