Aber der Islamismus fordert die westlichen Gesellschaften in einem noch umfassenderen Sinne heraus. Er lässt sich nämlich nicht nur auf die kriminelle Tätigkeit von Terroristen reduzieren. Er tritt auch in der Form einer politisch-kulturellen Bewegung auf, deren - freilich keineswegs homogene - Ideologie einen radikalen Gegenentwurf zur säkularen Moderne anbietet. Längst beschränkt sich sein Wirkungsbereich nicht mehr auf vermeintlich exotische Weltgegenden und entlegene "failed states". Als eine politische Kulturbewegung beeinflusst der Islamismus zunehmend auch die wachsenden muslimischen Gemeinden in den westlichen Demokratien. Seine Propagandisten versprechen die Überwindung der Trennung von Individuum, Gesellschaft und Staat, von Einzel- und Gesamtinteresse, von Intellekt und "Seele" in einer alle Lebensbereiche umfassenden Gemeinschaft, die sich auf eine verbindliche Ordnung absoluter, durch eine nicht hinterfragbare Offenbarung verbürgter Werte stützt.
Auf diese Herausforderung zeigen sich die westlichen Gesellschaften schlecht vorbereitet. Dass - nach dem scheinbaren Ende des Zeitalters totalitärer Ideologien - ein gesellschaftliches Gegenmodell mit solcher Wucht noch einmal auf der weltpolitischen Bühne erscheinen würde - damit hatte im Westen kaum noch jemand gerechnet. Dabei erweist sich die Sehnsucht nach einer metaphysisch abgesicherten Einheit des Daseins, die der Islamismus artikuliert, als keineswegs so fremd und äußerlich, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Diese Sehnsucht nach ihrer eigenen Negation hat die Säkularisierung vielmehr von Anfang an begleitet wie deren eigener Schatten. Aus dieser Sehnsucht gingen nicht zuletzt die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts hervor.
Ihr Wiederauftauchen in Gestalt der islamischen Erweckungsbewegung erinnert die westlichen Gesellschaften daran, dass der Wunsch nach dem Aufgehen in einem vermeintlich harmonischen Ganzen auch bei uns unterschwellig lebendig geblieben ist. Davon zeugt nicht nur die endemische Suche nach esoterischen Heilsphilosophien und Ersatzreligionen für das im Zuge der Verweltlichung domestizierte offizielle Christentum. Es zeigt sich auch an der Verlegenheit, mit der Teile der westlichen Öffentlichkeit auf die Frage reagieren, was sie an ihrer säkularen Ordnung eigentlich für wertvoll und verteidigenswert halten.
Viele Anklagen islamistischer Prediger reproduzieren zugespitzt eben jenes negative Selbstbild der liberalen Moderne, das in den westlichen - jedenfalls in den europäischen - Gesellschaften inzwischen zum Gemeingut einer populären Kulturkritik geworden ist. Sie prangern die angebliche Entleerung des Seins durch einen bindungslosen Individualismus, die vermeintliche Abtötung des Geistes durch die Fixierung auf Materialismus und hemmungslosen Konsum, den behaupteten Zerfall der Gesellschaft durch die Auflösung "natürlicher" und traditionell gewachsener Gemeinschaftsstrukturen an. Damit drängen sie den Westen in die Defensive - scheint er sich doch der Werte, die er seiner säkularen Ordnung zu verdanken hat, alles andere als sicher zu sein. Die Errungenschaften des Säkularismus sind inzwischen wohl so selbstverständlich geworden, dass die Notwendigkeit, ihre Voraussetzungen immer von Neuem zu sichern und sie aktiv zu verteidigen, immer weniger erkannt wird. So ist das Bewusstsein darüber verblasst, dass das Prinzip der individuellen Autonomie nicht nur für das vielfach beklagte Gefühl von Vereinzelung und Ungewissheit verantwortlich ist, sondern die Ansprüche der Bürger auf Unversehrtheit, Rechtssicherheit und soziale Absicherung überhaupt erst begründet hat.
Deshalb verfällt die Diskussion über den Wertebestand der freien Gesellschaften häufig in ein melancholisches Nachsinnen über vermeintlich verlorene Sicherheiten, die man an den verschütteten "Wurzeln" des "christlichen Abendlandes" wieder zu finden hofft. Doch wer auf den Anspruch fundamentalistischer Ideologen, höhere Werte als die des "dekadenten" Westens zu vertreten, mit der Suche nach einem gleichwertigen "Eigenen" der eigenen Kultur antwortet - und daraus womöglich noch, wie im Streit um den EU-Beitritt der Türkei, kulturelle Ausschlusskriterien ableitet - ist den Herausforderern bereits in die Falle gegangen. Beruht der Vorzug der offenen Gesellschaften doch gerade in ihrer Fähigkeit, auf eine ein für allemal festgelegte kollektive "Identität" verzichten und aus der daraus entstehenden Vielfalt Produktivität gewinnen zu können.
In Deutschland hat sich auf die politischen und intellektuellen Debatten der Mehltau eines geradezu lustvoll zelebrierten Kulturpessimismus gelegt. Sein Ausgangspunkt ist die verfestigte Überzeugung, unsere Gesellschaft leide unter einem rasant voranschreitenden "Werteverfall". Und niemand könnte ja auch leugnen, dass wir uns schwer wiegenden ökonomischen und gesellschaftlichern Problemen gegenübersehen. Doch das in zahllosen Talkshows und Podiumsdiskussionen geradezu rauschhaft betriebene Schwarzmalen erzeugt in der Gesellschaft keine Veränderungsaktivität, sondern paradoxerweise das Gegenteil: eine Art selbstzufriedener Apathie. Flankiert und gegen ihre eigene erklärte Intention gefüttert wird diese Haltung durch die vielen öffentlichen Warner und Mahner, die zur Besinnung auf ursprüngliche Werte und Tugenden aufrufen. Denn der Ruf nach der Rückbesinnung auf "Werte" hat längst den Unterton der Denunziation angenommen. Mit dem Finger auf andere zu zeigen und ihnen Selbstsucht und Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen, ist in Deutschland zu einem lager- und schichtenübergreifenden Volkssport geworden. So bezichtigen sich Junge und Alte gegenseitig, den Generationenvertrag zu kannibalisieren. Je nach Lagerzugehörigkeit und je nach Themenvorgabe durch den Sonntagabendtalk oder die "Bild"-Zeitung gelten "die Politiker", "die Gewerkschaften" oder "die Manager" als Kollektivschuldige am unaufhaltsamen Niedergang einer einst angeblich intakten Moral. Niemandem scheinen die Ankläger noch einen Sinn für Anstand zugestehen zu wollen - außer natürlich sich selbst.
Die Klage über den allgemeinen Werteverlust ist so längst zur idealen Ausrede geworden, warum man zur Abhilfe gesellschaftlicher Missstände selbst nichts beiträgt oder sich um praktikable Verbesserungsvorschläge herumdrückt. So erzeugt die viel beschworene "Wertedebatte" das Gegenteil dessen, was sie vorgeblich erreichen will: Statt zur Stärkung selbstbewusster Persönlichkeiten beizutragen, die sich ihren Mitmenschen gegenüber öffnen, befördert sie Verbitterung und Abkapselung von einer unter den Generalverdacht der Verkommenheit gestellten sozialen Umwelt.
Der Zusammenhalt einer freiheitlichen Gesellschaft wird aber nicht durch ewig feststehende Werte garantiert, auf die man sich per innerer Einkehr im Bedarfsfall wieder "besinnen" könnte. Tragfähige Werte entstehen vielmehr überhaupt erst aus der lebendigen Interaktion freier Individuen und gesellschaftlicher Interessengruppen. Sie wachsen aus der Erfahrung, dass Konflikte - auch zum eigenen Vorteil - besser durch vernünftigen Interessenausgleich gelöst werden können als durch einen regellosen Kampf aller gegen alle. Um ihre Werte lebendig zu halten, brauchen die Bürger einer freien Gesellschaft Räume, in denen sie aktiv ihr eigenes Schicksal gestalten können. Und sie brauchen, wie der designierte Bundespräsident Horst Köhler zu Recht gesagt hat, wieder mehr Zutrauen in die "Kraft der Freiheit" - jenes wichtigsten aller Werte, den uns die säkulare Demokratie bietet.
Richard Herzinger ist Autor der "Zeit".