Die Welt ändert sich. Im Zuge der Globalisierung haben sich in den letzten Jahren mehr und mehr neoliberale Ideen durchgesetzt. Privatisierug und Deregulierung drängen die nationalen Regierungen ins Abseits. Aufgaben, die bislang dem Staat oblagen, werden den Individuen überlassen. Der Markt soll's richten. Erfreulich und anerkennenswert, dass der deutsche Soziologenkongress 2002 sich dieser Problematik unter dem Generalthema "Entstaatlichung und Soziale Sicherheit" gestellt hat.
Die von Jutta Allmendinger, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), herausgegebene Dokumentation der Leipziger Gespräche gibt einen hervorragenden Einblick in den gegenwärtigen Stand der soziologischen Forschung. 400 Einzelbeiträge, auf über 1.200 Seiten in 95 Fachreferate gebündelt, spiegeln Breite und Tiefe der Themen wider, mit denen sich der Kongress auseinander gesetzt hat.
Es ist naturgemäß unmöglich, auf die Vielzahl und Vielfältigkeit der einzelnen Artikel detailliert einzugehen. Zentraler Schwerpunkt in zahlreichen Beiträgen sind die negativen Auswirkungen des Neoliberalismus. Die "Entmachtung des Staates" bringt eine Fülle neuer Risiken, für den Einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzem. Dauerarbeitsplätze werden zur Ausnahme, die Entlohnug stagniert, weil der Wettbewerb zu Kostensenkungen zwingt und bald nur noch Beschäftigung findet, wer jung, permanent flexibel und lernfähig ist. Schwarzarbeit blüht ebenso wie illegale Unternehmertätigkeit.
Der Markt versucht Niedriglöhne durchzudrücken und tarifliche Absprachen auszuhebeln. Anspruch auf Unterstützung soll nur noch haben, wer zu einer Gegenleistung bereit ist. Globalisierung, wie Georg Vobruba konstatiert, "untergräbt nationale Wohlfahrtsstaaten". Zwischenmenschliche Beziehungen werden belastet, Kinderlosigkeit erhöht sich, Solidarität wird erschwert und soziale Ungleichheit gefördert.
Ein weiterer Schwerpunkt des Kongresses war die "gesellschaftliche Verarbeitung von Terror". Das staatliche Gewaltmonopol wird einerseits durch Menschen in Frage gestellt, die aus persönlicher Verzweiflung oder infolge religiöser Verblendung skrupellos Gewalt ausüben. Andererseits aber gibt der Staat teilweise bereits freiwillig seine Sonderstellung auf, indem er private Dienstleister beauftragt, für ihn kriegsähnliche Aufgaben zu erfüllen, wie in jüngster Zeit im Irak zu beobachten ist. Hinzu kommt, dass die von den Massenmedien bereitwillig weitergegebenen Katastrophenmeldungen den Normalbürger abstumpfen und somit Terror und Gewalt zu etwas Alltäglichem machen. "Der Krieg", so Armin Nassehi, "ist der moderne Normalfall."
Andere Themen waren die "Entstaatlichung von Ernährungsrisiken", dargelegt am Beispiel BSE; "Sicherheit und grenzenlose Gefahr in der (post)modernen Stadt" trotz Überwachung und beginnender Selbstorganisation; die Konsequenzen des Entstaatlichungsprozesses für Wissen, Bildung und Unterhaltung; "Konfliktlinien einer sich formierenden gesamteuropäischen Gesellschaft" wie regionale Ungleichheiten, ein noch nicht überwundener Nationalismus sowie ein nicht akzeptiertes Mehrheitsverfahren.
Zu Recht fragt die Herausgeberin in ihrem Vorwort, wer denn die über 1.200 Seiten lesen werde. Sicherlich wohl etliche der Teilnehmer, ferner Studierende und Promovierende des Faches, kaum aber eine breite Öffentlichkeit. Zwar werden in den zwei Bänden eine Unmenge aktueller und lebenswichtiger Dinge angesprochen. Den meisten Autoren und Autorinnen ist es jedoch nicht gelungen, ihren wissenschaftlichen Jargon zu überwinden und so zu referieren beziehungsweise zu schreiben, dass die Aussagen ohne Vorkenntnisse verstanden werden.
Hinzu kommt: Es fehlt dem Doppelband eine Zusammenfassung, in der die Beiträge zueinander in Beziehung gesetzt, das Gemeinsame herausgearbeitet und unterschiedliche Standpunkte kurz erläutert werden. Bleibt zu hoffen, dass der Kongress 2004 in München die Vorträge publikumsfreundlicher anbietet und das dann später herausgegebene Kompendium eine ordnende Einleitung enthält. Thilo Castner
Jutta Allmendinger (Hrsg.)
Entstaatlichung und Soziale Sicherheit.
Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig.
Leske & Budrich, Opladen 2003.
Teil I und II zusammen 1243 S., incl. CD-ROM 80,- Euro