Gelegentlich vermitteln sich dem Bürger draußen in der Provinz richtig Aufregung und Spannung, wenn er im Fernsehen die Bilder, die Statements, die vielsagenden Mienenspiele der Polit-Prominenz verfolgt, die aus dem Reichstag und den anderen Machtzentren des Berliner Regierungsviertels übertragen werden. Wie ging es doch hektisch und nervenaufreibend zu, als Union und FDP in einem Dschungelkrieg ihren Kandidaten für die Nachfolge von Bundespräsident Johannes Rau kürten. Das ist noch gar nicht lange her, und doch scheint dieser Machtkampf eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen. Getagt wurde hinter verschlossenen Türen, über die Medien wurden taktische Botschaften lanciert. Ein wenig konnte sich der Fernsehzuschauer mittendrin fühlen, als man Wolfgang Schäuble demontierte, dann mit Annette Schavan als einem Zwischenjoker jongliert wurde und schließlich Horst Köhler als Phönix aus der Asche emporstieg.
Manch besorgte Stimme vor allem in den Medien prangerte dieses Hin und Her als parteipolitisches Geschacher an - so werde das Amt des Bundespräsidenten beschädigt. In der Tat sagten die Strippenzieher Angela Merkel, Edmund Stoiber und Guido Westerwelle offen, dass es ihnen im Kern um die Wahl 2006 geht. Aber Bedenken hin oder her: Es war mal richtig spannend. Das lässt sich von der Präsidentenkür am 23. Mai nicht mehr unbedingt sagen: Köhler setzte sich in der Bundesversammlung wie erwartet gegen Gesine Schwan durch. Dass sich die Kandidatin von SPD und Grünen unvermutet gut schlug und Köhler nur knapp die absolute Mehrheit erreichte, sorgte immerhin für einen Hauch von Überraschung. Und obendrein lockerte ein kleiner tagesordnungstechnischer Fauxpas von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse den seriösen Urnengang etwas auf.
Das Geschehen im Schatten der Reichstagskuppel während des ersten Halbjahrs ließ ohnehin nicht selten den elektrisierenden Reiz vermissen. Europa erlebte mit der EU-Erweiterung eine historische Zäsur, mit dem Streit über die EU-Verfassung eine Grundsatzdebatte und mit der Wahl zum EU-Parlament eine politische Weichenstellung. Der Urnengang am 13. Juni mit dem Absturz der SPD löste in der Tat ein Erdbeben in Berlin aus. So sehr dieser innenpolitisch motivierte Einschnitt die Parteienlandschaft durchpflügte, so bleibt diese Wahl doch folgenlos für die Bundespolitik: An den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag ändert sich nichts, und die Rückwirkungen der Entscheidungen im EU-Parlament werden sich wohl in Grenzen halten.
Auch die Bundestagsdebatten über die europäische Verfassung sowie über die EU-Ausdehnung dürften die Bürger kaum nachhaltig in ihren Bann geschlagen haben. Europapolitisch sind sie sich im Kern einig, die Koalition wie die Opposition, und so fehlt da eben ein bisschen das Salz in der Suppe. Ein Beitritt der Türkei, den Gerhard Schröder prinzipiell befürwortet und den Angela Merkel ablehnt, ist für viele Deutsche noch ein fern in der Zukunft liegendes Thema. Und die Forderung der FDP nach einem Volksentscheid über die europäische Verfassung mutet akademisch an - weil klar ist, dass ein solches Referendum nicht stattfinden wird.
Hinterlassen die Berliner Debatten über die EU kaum sichtbare Spuren, so lässt sich das von manchen innenpolitischen Entscheidungen nicht sagen. Nicht folgenlos bleibt etwa die Entscheidung zum Emissionshandel, der die Kohlendioxidbelastung der Luft reduzieren soll. Es war kein Wunder, dass dieses Gesetz einen beinharten Interessenclinch provozierte. Die Industrie fuhr schweres Lobbygeschütz auf. SPD-Wirt-
schaftsminister Wolfgang Clement und Umweltressortchef Jürgen Trittin von den Grünen schienen zeitweise nicht mehr als Koalitionspartner miteinander zu sprechen, sondern in diplomatischer Mission wie Vertreter gegnerischer Staaten zu verhandeln - samt dramatischer Nachtsitzung im Kanzleramt - so kommen zuweilen internationale Verträge zustande. Aber das Ergebnis setzte einen Markstein, auch wenn Trittin erheblich Federn lassen musste. Öffentlich weniger spektakulär verliefen die Konflikte um die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, da ging es mehr um - durchaus bedeutsame - Details bei der Förderung umweltverträglich produzierten Stroms. Schließlich einigten sich Bundestag und Bundesrat auch im Vermittlungsausschuss. Öko-Strom genießt also weiterhin eine gewisse Priorität.
Hohe Wellen schlugen und schlagen noch immer die Auseinandersetzungen um die Ausbildungsplatzumlage und um das Zuwanderungsgesetz. Indes verschwimmen irgendwie die konkreten Folgen dieser so heftig umkämpften Regelungen. "Ja, aber": So heißt es bei der Lehrstellenabgabe - sie gilt und doch auch nicht, weil stattdessen ein "Ausbildungspakt" mit der Wirtschaft vereinbart wurde. Und kaum war beim Zuwanderungsgesetz, das im Übrigen eine weitreichende Überwachung und Kontrolle von Ausländern mit sich bringt, mühsam ein Kompromiss zwischen Regierung und Opposition erzielt, da setzte schon eine neue Debatte ein über die Praktikabilität der Bestimmungen zur Öffnung der Arbeitsmärkte.
Aufgewühlt wird die Nation vor allem von den mit der Agenda 2010 einhergehenden tiefen Einschnitten in die Sozialsysteme. Zoff zwischen Gewerkschaften und SPD, unzählige Demonstrationen gegen Sozialabbau und Rentenkürzungen, massive Wahlenthaltung als Protest, Patienten empören sich über Praxisgebühren und steigende Zuzahlungen, Gesundheitsministerin Ulla Schmidt liegt unter Dauerbeschuss, wegen Hartz IV balgten sich Wirtschaftsminister Wolfang Clement, Länder und Kommunen monatelang: Es fällt indes auf, dass der Bundestag seinerseits als Bühne dieser Konflikte etwas in den Hintergrund geriet. Im vergangenen Jahr sorgte der Kanzler mit seiner Agenda-Rede im Plenum noch für einen gewaltigen Paukenschlag in der Republik, jetzt im März verhallte der Schlagabtausch zwischen Gerhard Schröder und Angela Merkel über die einjährige Bilanz rasch wieder. Offenbar fehlt es bei aller streitigen Rhetorik an Konfliktstoff: Trotz diverser Differenzen bei Details ist ja auch nicht zu verkennen, dass alle Fraktionen des Bundestags wie auch die Länderkammer beim Thema Nummer eins im Kern auf einer Linie liegen.