Minsk. Der graue Peugeot 605 des Präsidentschaftskandidaten Alexander Milinkewitsch wird auf der Minsker Ringautobahn von zwei Kleinbussen der Opposition in die Zange genommen. Kein Wagen folgt diesmal dem Konvoi. "Das KGB liest unsere Homepage; die warten in Lepel", scherzt der Fahrer.
Und tatsächlich: Der Zufahrtsweg zum Marktplatz der 20.000-Einwohner Stadt 160 Kilometer nordöstlich von Minsk ist mit einer Kette verschlossen; der Schlüssel bleibt unauffindbar. Während Standsteher eilig ihre Waren auf Schlitten packen und über den vereisten Platz ziehen, schleppen Milinkewitschs Wahlhelfer zwei uralte Lautsprecher und einen Generator über Eis und Schnee. Ein Zivilpolizist filmt bald Fremde und einheimische Schaulustige. "Die Leute haben Angst", raunt eine Frau im Pelzmantel und zeigt auf Uniformierte und Zivilpolizisten, die den Marktplatz umstellt haben und auf den Bürgermeister ganz hinten, der gerade mit dem Polizeichef spricht.
"Tretet näher, ich kann ja eure Gesichter gar nicht sehen!", ruft nun Alexander Milinkewitsch ins Mikrophon. Der großgewachsene, bärtige Kandidat steht mit bloßen Händen in der Eiseskälte und redet kurz von einem künftig neutralen Weißrussland ohne Nato und davon, dass er in Moskau genauso gern gesehen sei, wie in Brüssel und bittet dann - während seine Helfer mit einigem Erfolg Flugblätter verteilen - um Fragen. Etwa 100 Männer in Pelzmützen und Frauen in bunten Kopftüchern haben sich um ihn versammelt.
"Wieso müssen wir hier in der Kälte stehen?!", poltert ein Alter mit goldenen Zähnen. "Da müssen Sie die Stadtoberen fragen", entgegnet Milinkewitsch, dem man den Zutritt zum Kulturhaus verwehrt hatte. Ein Abgeordneter des Stadtsowjets erklärt: "Wir hier stimmen alle für Lukaschenko, denn Ihre Ausländer helfen uns nicht!" "Überhaupt: Wenn Sie Präsident werden, dann herrscht hier 100 Prozent Arbeitslosigkeit", knurrt eine alte Frau. Ein untersetzter Mann mit Pelzmütze klatscht in die Hände und wiegelt die Menge auf. "Der nächste bezahlte Fragensteller bitte!", fordert der lokale Wahlstabshelfer entnervt, während der Kandidat in Seelenruhe wie ein väterlicher Lehrer auf jeden eingeht. "Dieser Milinkewitsch ist mir sympathisch; der riecht nach Demokratie", sagt Natascha, eine etwas abseits stehende Rentnerin begeistert. Lukaschenko dagegen halte das Volk immer auf Abstand. "Interessant! Von diesem Kandidaten habe ich noch gar nicht gehört!", wundert sich ein Marktsteher.
Nach einer Stunde ist der Spuk vorbei. Die Provokateure sind abgezogen, zurück bleiben zwei Dutzend Bürger, die den Präsidentschaftskandidaten nun persönlich ansprechen oder um Autogramme und gemeinsame Fotos bitten. "Wenn wir hier zwei Seelen gewonnen haben, ist das bereits ein Erfolg", erklärt Milinkewitschs Sprecher Pawal Mazejka, ein junger Journalist, der wegen Präsidentenbeleidigung sieben Monate im Arbeitslager verbracht hat, auf der dreistündigen Fahrt zurück nach Minsk. Auf 30.000 Dollar ist das Wahlkampfbudget jedes Kandidaten gesetzlich beschränkt. Die Presse befindet sich größtenteils in Staatshand; Radio und Fernsehen hat Lukaschenko schon lange gleichgeschaltet. Weniger als ein Prozent der Sendezeit wurde im Februar den Oppositionskandidaten gewidmet; und dabei waren die Berichte fast ausnahmsweise negativ. Streitgespräche mit seinen Herausforderern hat Lukaschenko abgelehnt. Zweimal je 30 Minuten dürfen laut Wahlgesetz nun aber alle Kandidaten am Staatsfernsehen und -radio alleine vortragen. Der erste Auftritt der Oppositionskandidaten wurde unzensiert gesendet, beim zweiten Mal Anfang März wurde in alter Manier herausgeschnitten, was der Obrigkeit nicht passte. "Wir machen uns keine Illusionen über einen Wahlsieg unter diesen Umständen", sagt Mazejka. "Für uns ist es ein Erfolg, wenn wir die Angst der Leute brechen können."
Zurück in der Hauptstadt lässt kein Poster darauf schliessen, dass in Weißrussland bald gewählt wird. Einzig zwei Leuchtreklamen am Platz des Sieges verkünden: "Für Weißrussland!" Mehr nicht. Doch jeder weiß, dass dies der Wahlspruch Aleksander Lukaschenkos ist und dass, wer ihm seine Stimme versagt, den Arbeits- oder Studienplatz zu verlieren droht. 76 Prozent der Stimmen werde er diesmal erhalten, hat die Regierungszeitung "Sowjetskaja Belarus" bereits verkündet. Dass dies von Lukaschenkos Beamtenheer als Aufforderung verstanden wird, versteht sich von selbst.
Milinkewitschs Stab befindet sich in einer unscheinbaren Privatwohnung nahe der Akademie der Wissenschaften in Minsk. Wahlplakate und Flugblätter stapeln sich hier im Flur, in der Ecke steht ein Megaphon, auf das ein Besucher seine Pelzmütze gelegt hat. Hektisch rennen ältere Männer mit Hammer und Sichel am Revers an jungen Aktivisten der Nationalen Front vorbei. Ein Computerspezialist der Vereinigten Bürgerpartei bastelt mitten in diesem Ameisenhaufen an der Homepage des "Bündnis der Demokratischen Kräfte Weißrusslands" herum. Erst Mitte Februar ist er zusammen mit dem Kandidaten der Sozialdemokratischen Partei Hromada, Alexander Kasulin und dem staatlich sanktionierten "Oppositionskandidaten" Sergej Gajdukewitsch zur Wahl zugelassen worden. Unabhängige Umfragen sehen ihn mit rund 20 Prozent unter den Oppositionskandidaten führend; Lukaschenko kann aber demnach mit knapp über 50 Prozent rechnen. "Wir bereisen nun vor allem den Osten des Landes, weil Lukaschenko dort am meisten Anhänger hat", erklärt ein Sprecher.
Für den Wahltag selbst sind eigene "Exitpolls" geplant. Milinkewitsch hat seine Anhänger aufgefordert, das offizielle Wahlergebnis am Abend auf der Straße zu erwarten. Bei Fälschungen werde es zu Demonstrationen kommen, drohte Milinkewitsch. Er werde keine Revolution zulassen und sich bis zur letzten Kugel verteidigen, verspricht seit einiger Zeit Lukaschenko. In Oppositionskreisen kursiert die angebliche Zusage eines Generals, bei 50.000 Demonstranten würde die Armee Lukaschenko den Befehl verweigern. Doch wie viele am Sonntagabend demonstrieren, ist ungewiss. Allerdings haben unbewilligte Wählermeetings in Minsk Anfang März und jüngst im westweißrussischen Grodno gezeigt, dass Milinkewitsch schon vor der Wahl mehrere tausend Anhänger trotz drohender Polizeiknüppel und Verhaftungen auf die Straßen zu bewegen vermag. Am 2. März, nachdem der Kandidat Alexander Kasulin von Sicherheitskräften brutal zusammengeschlagen worden war, demonstrierten in Minsk so viele Menschen wie seit sieben Jahren nicht mehr.
Mit groben Wahlfälschungen rechnen sowohl die Anhänger Milinkewitschs wie jene Kasulins. Der Sekretär der staatlichen Zentralen Wahlkommission Nikolai Losowik sieht das anders: "Bei uns wird Gesetz mit großem G geschrieben", sagt er in seinem geräumigen Büro tief in einem Amtsgebäude aus der Sowjetzeit nur wenige hundert Meter von Sitz des weißrussischen KGBs entfernt. Dass nur zwei der 74.107 Mitglieder der regionalen Wahlkommissionen Parteimitglieder der Opposition sind, bedeutet laut Losowik nichs Nachteiliges für die Opposition. "Ich persönlich hege keine Zweifel, dass diese Wahlen fair und frei sein werden."