Man kann dem bei aller Allergie gegen "Waschzettelrhetorik" in diesem Fall durchaus zustimmen: In präziser und anschaulicher Weise unternimmt Dahrendorf eine Erkundungsreise zu den Quellen des liberalen Geistes. "Es ist ein Versuch herauszufinden, welche Qualitäten Menschen befähigen, auch unter widrigen Umständen nicht abzulassen von der Verfechtung der Ideen, auf die liberale Ordnungen gegründet sind. Wer bleibt stark, wenn die meisten schwach werden?"
Die Sympathie des Autors gehört der Societas Erasmiana, zu denen er Geister wie Karl Popper, Raymond Aron, Norberto Bobbio, Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Manès Sperber und Arthur Koestler zählt. Als "Unversuchbare" (eine etwas gestelzte Formulierung!) zeigten sie eine Geisteshaltung, bei der sich Bedächtigkeit und Klugheit, Vorausschau und Nachhaltigkeit miteinander verbanden:
"Sie reagieren nämlich nicht nur, halten sich überhaupt nicht nur auf der Ebene der konkreten Herausforderung auf, sondern greifen in ihren Gründen stets tiefer. Sie verbinden die kritische Analyse des Bestehenden mit dem Grund, auf dem die liberale Ordnung verankert ist. Immer ist die Verfassung der Freiheit präsent, auch wenn es konkret um den Algerienkrieg oder die abnehmende Bedeutung der Begriffe ,rechts' und ,links' geht. Insofern ist ihr Liberalismus nicht nur flächig und auf kurzlebige Interessen bezogen."
Dahrendorf ist selbst Liberaler und zudem "altersweise". Vor allem aber ist er ein realistischer Analytiker; und so liegt es ihm fern, die "Erasmier" in leuchtenden Farben zu beschreiben. Wie ihr Ahnherr, Erasmus von Rotterdam, rufen sie selten Begeisterung hervor. Das lutherisch-stürmerische "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" liegt ihnen nicht. Für sie gilt vorwiegend die Maxime, die Bertolt Brecht dem gebrechlichen Laotse auf dem Weg in die Emigration in den Mund legt: "Dass das weiche Wasser in Bewegung/ mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt, / du verstehst, das Harte unterliegt."
Doch können erasmische Intellektuelle auch "hakig und schwierig" sein. Ihr Psychogramm mündet bei Dahrendorf in eine politische Anthropologie, die zumindest indirekt den Staatsbürgern plural und liberal verfasster Staaten eine Verhaltensweise nahe legt, bei der fortitudo (in Form nicht zu riskanter Zivilcourage), iustitia und sapientia (mehr Vernunft als Weisheit) im Vordergrund stehen.
Die liberale Taxonomie des Autors - ein Deutscher, zum englischen Lord geworden, bestimmt von understatement und coolness (was Empathie und Distanzierung bedeutet) - unterscheidet bei den im Buch erwähnten Intellektuellen der Kohorte 1900-1910 zwischen "Mitgliedern" (etwa Personen wie die schon Erwähnten), "Kandidaten" (zum Beispiel Dolf Sternberger, Sebastian Haffner, Golo Mann), "fördernden Mitgliedern" (Verteidigern der Erasmier, ohne selbst solche zu sein, etwa Peter de Mendelssohn) und "abgewiesenen Kandidaten" (Jean-Paul Sartre, Robert Havemann).
Nun besteht der Wert des Buches natürlich nicht in der Beantwortung der Frage, wer wo einzuordnen ist (man solle die "Tafel" mit gebotener Nachsicht und Ironie lesen, meint Dahrendorf selbst); vielmehr liegt er in der essayistischen Qualität, bei der phänomenologische Weite mit gedanklicher Tiefe gepaart ist.
Der Faschismus lockte mit Bindung und Führung, der Kommunismus mit Bindung und Hoffnung. Von der "Bindung in die Volksgemeinschaft" durch den "Arbeitsdienst", die "Bindung an die Ehre und das Geschick der Nation" durch den "Wehrdienst" und die "Bindung an den geistigen Auftrag des deutschen Volkes" durch den "Wissensdienst" schwadronierte Martin Heidegger im ideologischen Wurzeldeutsch. Als Ersatzreligion fungierte der Kommunismus für viele erlösungssüchtige Intellektuelle.
Manès Sperber beschrieb eindringlich, wie der Verlust des Glaubens an den Gott seiner Väter, vor allem seines Vaters, ihn langsam reif machte für den Glauben an den "roten Gott". Arthur Koestler schildert, wie er in einer sich desintegrierenden Gesellschaft, die nach Sinn dürstete, der "Verlockung der neuen Offenbarung, die vom Osten kam", erlag.
Dabei treffe man auf einen wichtigen Unterschied zum Faschismus, der die religiöse Qualität des intellektuellen Glaubens an den Kommunismus beträchtlich verstärke: "Wo der Faschismus unter anderem durch Führung in Versuchung führte, stand im Kommunismus die abstraktere, nachhaltigere Kraft der Geschichte, und vor allem der Hoffnung. Der Faschismus war eine Gegenwartsideologie, der Kommunismus eine der Zukunft."
Auf dem "Prüfstand des 20. Jahrhunderts" zeigte sich aber auch die charakterliche Stärke derjenigen, die jenseits der Versuchbarkeit standen - oft freilich gefördert durch günstige Umstände, etwa weil sie in einem neutralen Land lebten. Die in Genf beheimatete Philosophin Jeanne Hersch zum Beispiel, eine "Erasmierin reinsten Wassers", verfiel nie den Versuchungen totalitärer Zeiten. "Gegen diese die ,verantwortliche Freiheit' zu verteidigen, war ihre selbstgesetzte Lebensaufgabe. Gelegentlich schlich sich dabei das Bewusstsein ein, dass es für sie im Grunde leicht ist, diese Aufgabe wahrzunehmen. ,Ich lebte ja in einem freien Land', in der Probleme der Unterdrückung nicht im Mittelpunkt standen."
Andere begingen die "lässliche Sünde der Anpassung", zogen sich in die "verwundbare Freiheit der inneren Emigration" zurück, stilisierten reines Schauen ("auf Marmorklippen"), erlitten das Exil als Not, aber auch als Chance.
Die Jahre 1945, 1968, 1989 und 2001 markiert der Autor als Schlüsseljahre (das letztere in Hinblick auf die "neue Gegenaufklärung"), in denen die Intellektuellen in ganz besonderem Maße Stellung beziehen mussten und auch - oft genug auf fragwürdige Weise - bezogen haben. Für die Überlebenden habe das Jahr 1945 den ersten großen Lichtblick in einem bis dahin von düsteren Wolken verhangenen Jahrhundert gebracht. "Die militärische Niederlage des Naziregimes in Deutschland war so total, dass alle Spuren der Versuchung, die Hitler so lange an der Macht gehalten hatte, verwehten. Der italienische Faschismus war schon Jahre vorher zerbröselt."
Es war, so Dahrendorf, wieder eine Freude zu leben. "Jedenfalls galt das für diejenigen, die den Faschismus einigermaßen unversehrt überstanden und nun das Glück hatten, in der freien Welt ihren Lebensplänen nachzugehen. Es gab mehr Freiheit in der Welt. Für die vielen indes, die zum Beispiel im östlichen und südöstlichen Mitteleuropa lebten, blieb die Freiheit ein kurzer Silberstreif, bevor der Horizont sich wieder verdunkelte. Ein Kopf der Hydra des Totalitarismus war zwar abgeschlagen, aber ein anderer war nachgewachsen."
Erst in diesen Nachkriegsjahren wurde für den Autor ganz deutlich, dass totalitäre Herrschaft nicht nur Faschismus hieß, sondern (in den Worten von Czeslaw Milosz) "eine Art Bazillus" war, ein Bazillus der Zeit: "Für die öffentlichen Intellektuellen hatte der Kalte Krieg, der nun ausbrach, eine merkwürdige Folge: Sie organisierten sich. Bemerkenswerter noch: Sie wurden organisiert. Als die Erasmier unter ihnen das merkten, wurden sie böse; aber eine Zeitlang gefielen auch sie sich in ihrer neuen Machtposition als organisierte Kraft. Auf der einen Seite, der des Ostens, des Kommunismus, kreiste die Organisation um das Wort Frieden, auf der anderen, der des Westens, der Demokratie, um das Wort Freiheit."
1945 begann auch der Aufstieg von Ralf Dahrendorf zum führenden Wissenschaftler und Politiker - ein "homo sociologicus" par excellence. Als solcher begleitete er seit der Veröffentlichung der gleichnamigen Schrift (1959) den Weg der Bundesrepublik als ein öffentlicher erasmischer Intellektueller: "Ein Zeuge des liberalen Geistes in Zeiten der Prüfung."
Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen im Zeichen der Prüfung. Verlag C. H. Beck, München 2006; 240 S., 19,90 Euro
Hermann Glaser hat als Kulturreferent in Nürnberg manchem der hier genannten "Erasmier" eine Plattform für die öffentliche Diskussion gegeben. Der Zusammenhalt von Kultur und Politik ist auch in seinen jüngsten Publikationen sein wichtigstes Anliegen.