Ziel des Buches ist, wie der Autor unumwunden erklärt, ein "frischer Blick". Er will weniger die Theorie und den ideologischen Selbstanspruch jener nach dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution von 1917 bedeutsam gewordenen nationalistischen, antikommunistischen und rassistischen Bewegungen herausstellen als vielmehr ihre Interaktionen und Anpassungsprozesse innerhalb der Gesellschaften, die sie zu verändern trachteten.
Paxton hat seine Analyse einerseits geografisch über Europa, andererseits temporär über 1945 hinaus in die Gegenwart ausgeweitet. Er reduziert "Faschismus" nicht auf die gleichnamige Bewegung Benito Mussolinis in Italien, sondern hat sehr unterschiedliche Bewegungen wie den Nationalsozialismus, die isländischen "Grauhemden", die "Action Française" oder gar Wladimir Schirinowskijs "Liberaldemokratische Partei Russlands" im Blick. Paxton begreift seinen Forschungsgegenstand nicht als historisches Relikt, sondern als virulente Gefahr politischer Blockaden in Zeiten tief greifender politischer Krisen.
So interessiert er sich besonders für das "Amalgam" unterschiedlicher, aber miteinander vereinbarer konservativer, nationalsozialistischer und rechtsradikaler Bestandteile. Diese sieht er verbunden durch gemeinsame Gegner und gemeinsame Leidenschaften mit dem Ziel einer regenerierten, gestärkten und ,gesäuberten' Nation - zu welchem Preis auch immer. In dem kurzen Vorwort zur deutschen Ausgabe scheut er sich nicht, die Politik der Bush-Administration infolge des 11. Septembers in diesem Gesamtkontext zu erwähnen.
Auch wenn die historisch-ausgreifenden Partien zur Genese und Radikalisierung der faschistischen Bewegungen in Italien und Deutschland keine neuen Erkenntnisse über das hinaus zu Tage fördern, was bereits auf subtile Weise von Stanley G. Payne, Roger Griffin, Renzo De Felice oder Ernst Nolte geleistet wurde, so vermag Paxtons pointierte und urteilsfreudige Art den Leser doch stets in seinen Bann zu ziehen und womöglich an manchen Stellen zu Widerspruch reizen: sei es bei seiner Zurück-weisung eines Geschichtsdeterminismus, der Adolf Hitler als logischen Endpunkt eines unheilvollen deutschen Sonderweges begreifen will, oder hinsichtlich sein Insistierens darauf, dass die Epoche des Faschismus, zumal in Europa, keineswegs historisch überwunden sei.
Denn neben gefährlichen Tendenzen im Osten macht Paxton ein faschistisches Potenzial vor allem in Westeuropa - in Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland - aus. Doch lassen sich "Front National", "Alleanza Nazionale", FPÖ oder NPD, so unterschiedlich ihre Stärke innerhalb des jeweiligen Parteienspektrums und ihre gesellschaftliche Akzeptanz im einzelnen ist, tatsächlich über einen Kamm scheren? Der Autor selbst weicht hier einer deutlichen Antwort aus; anhand seines Mehr-Stufen-Modells, das er als Vergleichsmaßstab dem Entstehungs-, Entwicklungs- und Machtakkumulationsprozess der jeweiligen Bewegung zugrunde legt, akzentuiert er die fließenden Übergänge von Radikalismus, Extremismus und Faschismus. Einer eindeutigen Vermessung des jeweiligen "Objektes" ist dieses Vorgehen jedoch eher abträglich.
Keine Frage: Paxton warnt zu Recht vor den Versuchungen, in Zeiten tief greifender gesellschaftlich-politischer Krisen "freie Institutionen" aufzugeben, insbesondere dann, wenn es sich um Freiheiten unpopulärer Gruppierungen handelt. Doch sind diese Versuchungen keineswegs auf West-, Mittel- oder Osteuropa oder die Vereinigten Staaten beschränkt, auch wenn sie unzweifelhaft zum Wesenskern einer liberalen Gesellschaft gehören.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, wohin es führen kann, diesen Versuchungen nachzugeben. Was die Konsequenz wäre, führt uns der Band - sicherlich nicht der letzte zum Thema Faschismus - erneut vor Augen: nicht nur Tinte würde fließen.
Robert O. Paxton: Anatomie des Faschismus. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005; 448 S., 24, 90 Euro
Volker Kronenberg ist Zeithistoriker und arbeitet als Privatdozent am Seminar für Politische Wissenschaft der Universität Bonn.