Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde", notierte Victor Klemperer am 4. Oktober 1941 in sein Tagebuch. Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, vertritt dagegen zwei Generationen später die gegenteilige Auffassung, dass nämlich die meisten Deutschen wegen der NS-Verbrechen an Juden kein Unrechtsbewusstsein entwickelt hätten.
Wer hat Recht, fragt Konrad Löw, emeritierter Politologe in seinem Buch: Klemperer oder Korn? Wie viele andere auch sieht Löw in der Shoa eines der größten Verbrechen der Menschheit. Doch möchte er wissen, wer hierfür die Verantwortung trägt. Die große Mehrheit der damals lebenden Deutschen, wie oft behauptet wird? Sind die Deutschen gar ein Volk von Verbrechern gewesen?
Um diese Fragen endgültig zu klären, hat der Autor Tagebücher, Briefe und andere Aufzeichnungen zahlreicher Nazi-Opfer gesichtet, weil diese besonders glaubwürdige Zeitzeugen seien und den Tätern sicherlich keine Persilscheine ausstellen würden. Sein Gewährsmann ist vor allem der 1881 in Deutschland als Sohn eines Rabbiners geborene Victor Klemperer, der von Löw immer wieder in den Zeugenstand gerufen wird. Die meisten Zeugen, die in Löws, mit einem Sammelsurium von Zitaten gespickten Buch angeführt werden, äußern sich durchweg positiv. Nur einige wenige, die gegenteiliger Ansicht sind, kommen zu Wort.
Löw, Jahrgang 1931, greift dabei auch auf eigene Erfahrungen und Erinnerungen zurück. Hatte er doch das Glück, Eltern zu haben, die im Gegensatz zu vielen anderen mit den Nazis nicht sympathisiert haben. Auch wenn der Verfasser immer wieder versichert, dass es ihm nicht "um eine Ehrenrettung ,der Deutschen' um jeden Preis" ginge, sondern dass er ein möglichst wirklichkeitsgetreues Geschichtsbild geben wolle, so wird man wähernd der Lektüre gleichwohl das fatale Gefühl nicht los, dass er vornehmlich jene Zeugnisse mit Fleiß und Eifer zusammengetragen hat, in denen von "anständigen Deutschen", von "mutigen Freunden" und von dem tadellosen Benehmen "aller Christen" die Rede ist.
Zahlreiche Opfer indes haben ganz andere Erfahrungen gemacht als jene, auf die sich Löw immer wieder beruft. Nicht immer war das Verhalten nichtjüdischer Deutscher "vorbildlich" und "bewundernswert". Und dass einer von ihnen den Verfolgten Obdach gewährte, war auch nicht gerade an der Tagesordnung. Nicht alle verhielten sich im Umgang mit Juden "korrekt" und "freundlich".
Den Titel des Buches "Das Volk ist ein Trost" will Löw den Aufzeichnungen von Jochen Klepper entnommen haben. Allerdings verschweigt er tunlichst, dass sich Klepper in seinem Tagebuch oft sehr bitter über "Volk" und "Kirche" geäußert hat und dass Edgar Hilsenrath, den er ebenfalls zitiert, in seinen Erinnerungen davon erzählt, dass seine Schule in Halle eine wahre "Hochburg antisemitischer Hetzpropaganda" gewesen sei.
Heute, beklagt Konrad Löw, seien die Ereignisse zwischen 1933 und 1945 präsenter denn je - dafür sorgten Presse, Funk und Fernsehen. Auch gebe es immer noch Menschen, die "nicht müde werden, das Schweigen, das zu leise Reden der Kirchen und ihrer Amtswalter zu beklagen".
Um das vermeintliche Gelingen jüdischer Emanzipation in Deutschland vor der Nazizeit zu beweisen, zitiert er Martin Buber, der "die Symbiose von deutschem und jüdischem Wesen" gepriesen hat, ohne zu erwähnen, dass Gershom Scholem die Symbiose für gescheitert hielt. Viele Dinge, die Löw behauptet, haben durchaus ihre Richtigkeit, allerdings - wie er die inhaltlichen Akzente setzt, stimmt nachdenklich und verstimmt zugleich.
Dann wieder zählt er jene auf, die den Antisemitismus während der 20er-Jahre "ganz selten und ausnahmsweise" wahrgenommen haben. Dass auch Juden hassen können, dass Ostjuden manchen assimilierten Juden "ein Stein des Anstoßes" waren, wird ebenfalls mehrmals betont. Wenn aber Taten und Untaten von Juden und Nichtjuden genau aufgelistet werden, fragt man sich doch: Welcher Sinn steckt dahinter? Dass auch Juden Menschen und keine Engel sind, sondern ganz unterschiedliche Individuen, behaftet mit Fehlern, Schwächen und Stärken wie jeder andere auch, wer wollte das ernstlich bestreiten?
So freundlich, wie Löw zu suggerieren versucht, haben sich Kirchen und Christen gegenüber Juden nun wahrhaftig nicht verhalten. Selbst das im Grunde etwas lahme Schuldeingeständnis von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 1998, in dem lediglich von der Schuld der "Söhne und Töchter der Kirche" gesprochen wird, geht ihm zu weit. Überdies: Ist das ein Trost, "dass die Bevölkerung anderer Länder unter ähnlichen Umständen nicht ehrenhafter reagiert hätte"? Und wie verallgemeinerungsfähig sind die zahlreichen, vom Autor aus dem Zusammenhang gerissenen Aussagen?
Auch wenn Löw alles zusammengesucht hat, was "die Deutschen" irgendwie entlasten könnte, der Holocaust, dieses Verbrechen an der Menschheit, wird dadurch um keinen Deut harmloser und entschuldbarer. Er ist und bleibt ein untilgbares Schandmal in der deutschen Geschichte.
Zudem ist das Buch, das übrigens mit einem sehr fragwürdigen Resümee schließt, eine Zumutung für alle Opfer, die nicht die Solidarität und Hilfsbereitschaft von Deutschen erfahren haben, sondern im Gegenteil verraten und verkauft worden sind.
Nebenbei bemerkt: Ärgerlich ist auch, dass Menschen jüdischer Herkunft mit stereotyper Konstanz, wodurch schlimme Assoziationen an die Nazisprache geweckt werden, als der "Jude" bezeichnet werden, wie etwa "der Jude Alfred Neumeyer", "die Jüdin Rosa Luxemburg", "der Jude Dr. Felix Goldmann" - ohne Anführungszeichen, versteht sich.
Konrad Löw: "Das Volk ist ein Trost". Deutsche und Juden 1933 - 1945 im Urteil der jüdischen Zeitzeugen. Olzog Verlag, München 2006; 381 S., 34,- Euro
Ursula Homann arbeitet als freie Journalistin in Arnsberg, vorwiegend zu Themen der deutschen und deutsch-jüdischen Geschichte.