Das Parlament: Herr Nolte, waren Sie enttäuscht, als Angela Merkel nach der Wahl die "Politik der kleinen Schritte" verkündete, anstatt, wie vorher angekündigt, einen radikalen Umbau des Sozialstaates zu betreiben?
Paul Nolte: Ein bisschen schon. Vielleicht wollte sie die Bevölkerung auch einfach nicht in einen Schockzustand versetzen. Aber ich glaube weiterhin, dass wir etwas mehr brauchen als diese kleinen Schritte, zumindest eine Zielangabe dafür, was mit diesen erreicht werden soll. Denn ein großes Ziel auch in Etappen aufzuteilen, ist prinzipiell gut nachzuvollziehen.
Das Parlament: In ihrem Buch "Riskante Moderne", beschreiben Sie die Bundesrepublik als rückständig und die Deutschen als ökonomische Analphabeten, die nicht gelernt hätten, marktwirtschaftliche Prinzipien zu akzeptieren. Doch der Export boomt, die Gewinne der Unternehmen auch.
Paul Nolte: Aber das ist nur ein Teil des Bildes und teilweise auch ein trügerisches Bild. Wir leben in einem Land mit sehr gespaltenen Phänomenen. Einerseits ist es im Export sehr erfolgreich; andererseits haben wir ganze Bereiche der Gesellschaft von der Entwicklung abgekoppelt: Mit der Bildung, der Eingliederung von Migranten, mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und auch mit Innovationen in vielen anderen Bereichen tun wir uns sehr schwer. Wir sitzen nicht mehr auf dem hohen Ross, sondern werden von anderen überholt - zum Teil von Ländern, die wir vor einiger Zeit noch für Entwicklungsländer gehalten haben.
Das Parlament: Sie fordern konsequent mehr Markt statt weniger. Heilt der Markt alle Wunden?
Paul Nolte: Es ist zunächst auch eine Gegenrede gegen die weit verbreitete Angst vor dem Markt. Die Gewöhnung der (West-) Deutschen an die Marktgesellschaft im Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg ist in vieler Hinsicht oberflächlich geblieben und nur unter der Bedingung akzeptiert worden, dass es gut läuft und man selber davon profitiert. Die Einsicht, dass das auch in schlechteren Zeiten noch ein System ist, mit dem man relativ gesehen noch am besten fährt, ist nicht so weit gewachsen. Nun heilt der Markt sicherlich nicht alle Wunden, aber im Vergleich mit anderen westlichen Ländern haben wir in vielen Bereichen gar nicht so viel Markt, wie wir meinen. Es ist keineswegs so, dass der Markt alle unsere Lebensbereiche bestimmt. Durch einen sehr weitgreifenden öffentlichen Sektor haben wir weite Bereiche des Marktes auch abgeschottet. Jetzt kommt es darauf an, uns im internationalen Wettbewerb besser aufzustellen. Was kann und muss in öffentlicher Regie bleiben? Welche Vorleistungen können privatisiert werden? Es ist nicht per se schlecht, wenn der Staat das Gas nicht mehr zur Verfügung stellt. Und es hat noch nichts mit Privatisierung im eigentlichen Sinn zu tun, wenn man auch im Bildungsbereich das Marktprinzip im Sinne von mehr Wettbewerb etabliert.
Das Parlament: Nun ist es den Leuten schwer zu vermitteln, aus der "falschen Frontstellung von Ökonomie und Werten" herauszukommen, wie Sie es fordern, wenn man beinahe täglich von Massenentlassungen hört aus Unternehmen, die gleichzeitig Gewinne einfahren.
Paul Nolte: Mein Plädoyer ist nicht so zu verstehen, die Ökonomie vor sich selber in Schutz zu nehmen. Es geht um mehr Bereitschaft, auch ökonomisch zu denken, sich mit dem Wettbewerb, in dem wir stehen, zunächst einmal auseinander zu setzen. Das Problem ist ja nicht, dass Arbeitsplätze irgendwo abgebaut werden, sondern dass keine neuen Arbeitsplätze woanders entstanden sind, im Dienstleistungssektor zum Beispiel. Die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland wird nicht in der Produktion von Heimtextilien und Transistorradios bestehen. Und, genauso wichtig: Wir haben uns als Gesellschaft insgesamt nicht genügend qualifiziert. Vergleichsweise zu viele Menschen haben keine oder nicht genügend gute Bildungsabschlüsse. Und da greift dann die Ökonomie auf die Wertefrage über, wenn sie an diese wichtige Schnittstelle der Bildung kommt.
Das Parlament: Sie schlagen vor, beides in der Idee des Investierens zu verbinden: Die verharrende und sparende Gesellschaft müsse wieder zu einer investierenden werden. Nun kann man der bundesdeutschen Gesellschaft nicht vorwerfen, nichts investiert zu haben in den vergangenen Jahrzehnten.
Paul Nolte: Seit den späten 70er- oder frühen 80er-Jahren sind wir da in einen Rückstand geraten. Eigentlich haben wir in der Mitte der 80er-Jahre aufgehört, Schulgebäude, Krankenhäuser und einen Großteil unserer Infrastruktur neu zu bauen oder Erhaltungsinvestitionen zu betreiben. Es ist nicht unbedingt eine zwangsläufige Folge, aber doch ein Indiz, das damit zusammenhängt, dass jetzt Hallendächer aus den 70er- und 80er-Jahren zusammenbrechen. Das wird uns noch öfter passieren. Wir haben natürlich auch teilweise falsch investiert, investiert auf Pump, uns nicht klar gemacht, was die Leistungen, die wir uns da hinstellen, kosten oder wie die zu amortisieren sind.
Das Parlament: Ihre Idee der "investiven Gesellschaft" beinhaltet vor allem eine Stärkung der Bürgergesellschaft, die vom Leitbild der Anspruchsberechtigung, des Konsums und der Selbstverwirklichung abrückt. Was soll dem entgegengesetzt werden?
Paul Nolte: Ich schließe mich nicht den Konsumverzichtstheorien der 70er- und 80er-Jahre an und jenen, die sagen, Geld macht unglücklich. Wir müssen eine Gesellschaft bleiben, die auf Wohlstand, auch auf materiellen Wohlstand ausgerichtet bleibt. Wohlhabende Gesellschaften sind innerlich wie nach außen relativ befriedet. Gerade deshalb sollten wir alles tun, diesen Wohlstand zu erhalten: durch ein Investieren nicht nur im materiellen Sinne. Die Idee des Investierens meint ja nicht, zuerst etwas in Anspruch zu nehmen, sondern zuerst Vorleistungen zu erbringen, um später die Gewinne auch einstreichen zu können. Und diese Vorleistungen sollten nicht nur materieller, sondern auch sozialer Art sein. Es geht um ein Investieren in soziale Beziehungen. Das ist ja mein Appell: Wir müssen heraustreten aus der Privatheit, aus der Privatheit der Konsumbefriedigung. Die Bürger müssen sich in öffentliche Dinge wieder einmischen, weil das Ressourcen sind, von denen eine Gesellschaft zehrt, von denen sie abhängig ist.
Das Parlament: Eine zentrale Rolle in ihren Überlegungen spielt die Mittelschicht, die ihre Verantwortung für das Gemeinwesen neu entdecken und die tragende Säule der neuen Bürgerlichkeit sein soll. Noch verabschieden sich gut situierte Mittelstands-Eltern aus einem Bezirk wie Kreuzberg spätestens dann, wenn ihre Kinder zur Schule kommen.
Paul Nolte: Man darf sich keine Illusionen über den Altruismus der Menschen machen, auch wenn ich selber häufig an diesen Altruismus appelliere. Man kann auch niemandem vorschreiben, wo er hinziehen soll. Aber wir sollten die Menschen dazu auffordern, an mancher Stelle diese Probleme zu sehen und sich entsprechend zu engagieren.
Das Parlament: Ist das nicht sehr idealistisch? Ich erkenne die Tendenzen in diese Richtung überhaupt nicht. Momentan betont man doch die feinen Unterschiede des bürgerlichen Lebensstils eher als Abgrenzung nach unten.
Paul Nolte: Bürgerlichkeit sollte nicht in erster Linie dazu dienen, Statussymbole weiter auszubauen oder so zu untermauern, dass diese Gegensätze noch unüberwindbarer werden. Bevor die Bürgerlichkeit der Klasse ein Signum des Bürgerlichen war, meinte Bürgerlichkeit einen Universalitätsanspruch. Auf den versuche ich vor allem zurückzugehen: Bürger ist man nicht, wenn man eine Krawatte trägt. In subtiler Weise gehört das natürlich auch zur Selbststilisierung, aber das ist letztlich zweitrangig gegenüber der Fähigkeit, Grenzen zu überwinden, bestimmte Dinge, die man als richtig erkannt hat, auch für die gesamte Gesellschaft durchzusetzen. In vieler Hinsicht arbeiten wir ja daran. Nehmen wir das Beispiel Lesen und Bildung. Wir wissen auf einmal wieder, dass es ein Unterschied ist, welche Arten von Medien man konsumiert, und dass es wichtig ist, Kinder aus so genannten bildungsfernen Schichten zu erreichen. Ein Begriff, der neuerdings so verwendet wird - auch ein bisschen als Euphemismus für Unterschichten - weil wir wissen, dass der bürgerliche Wert Bildung wichtig ist. Gleichzeitig müssen wir uns darüber Rechenschaft ablegen, weil es auch mit dem Eingriff in Lebensverhältnisse zu tun hat. Wir müssen auch begründen, jemandem sagen zu wollen: "Es ist nicht deine Privatsphäre, dass du jetzt den Fernseher mal ausschalten sollst und dem Kind lieber ein Buch gibst." Das können wir eben nur dann tun, wenn wir eine gute Begründung haben, die heißt: Es geht letztendlich um Lebenschancen und nicht um Bevormundung.
Das Parlament: Sie nennen das Kapitel über die investive Gesellschaft "Jenseits des Konsums". Das widerspricht der kapitalistischen Logik, die vom Konsum lebt.
Paul Nolte: Ja, sie lebt davon. Aber die Konsumgesellschaft ist nur eine zweite Phase des Kapitalismus. Der Kapitalismus ist ja zunächst als eine Produktions-, als eine Massenproduktionsgesellschaft groß geworden. Ich fordere nicht, den Konsum als ökonomischen Tatbestand abzuschaffen, sondern die Dinge wieder ins Lot zu bringen, und ich weise auf die Tatsache hin, dass wir nur das konsumieren können, was wir vorher auch bezahlt haben. Ich könnte mir vorstellen, dass die Orientierung unserer Gesellschaft auf den Konsum ihren Höhepunkt überschritten hat. Nun sollten wir die Idee des Konsums umdrehen in die Idee des Investierens, des nicht zuerst Verbrauchens, des nichts zuerst Genießens. An erster Stelle sollte vielmehr die Frage stehen: Was können wir tun, was können wir noch leisten, um später noch konsumieren zu können? Der Konsum wäre dann erst der zweite Schritt, nach einer primären Orientierung der Gesellschaft, die auf das Schaffen von Ressourcen und nicht auf den Verbrauch von Ressourcen ausgerichtet ist.
Das Gespräch führte Claudia Heine