Heraus aus dem Dornröschenland! Das ist kein Satz aus dem Märchen, sondern eine auf die Realität bezogene Forderung: Paul Nolte weiß, dass man mit vorsichtigen Formulierungen niemanden aufrüttelt - und in einer Medienwelt auf Aufmerksamkeit nicht hoffen darf. Also macht er es anders, und hat Erfolg. Der begann, als er vor Jahren das Privatfernsehen als "Unterschichtenfernsehen" bezeichnete. Mit dieser Begriffs-Kreation schaffte es Nolte sogar bis zu Harald Schmidt. Seither rauschen die Thesen des jugendlichen Professors durch den Blätterwald, wenn es darum geht, den Zustand des Landes zu analysieren.
Nolte rechnet sich durchaus zu den "kulturellen Optimisten", so eine Formulierung am Beginn seines neuen Buches "Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus". Das sind jene, die mit Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft gehen und sich von den "kulturellen Pessimisten" unterscheiden, die "sich angstvoll und häufig frustriert an die Gegenwart klammern oder eine bessere Vergangenheit zurücksehnen". Gibt es auch Kategorien jenseits dieser Zweidimensionalität? Jedenfalls nicht in der "Riskanten Moderne". Liest man aber weiter, überkommen einen jedoch Zweifel, denn von Optimismus ist zunächst nicht viel zu spüren. Die Apokalypse scheint nah, ganz so, wie es Bundespräsident Horst Köhler vor Monaten schon prophezeite: Das Land steht kurz vor dem Untergang.
Nolte attestiert den Deutschen "geradezu lähmend übermächtige" Ängste vor den Herausforderungen der Moderne, die spätestens seit Mitte der 70er-Jahre zu einem gesellschaftlichen Stillstand geführt hätten, der bis heute anhält: "Die Verweigerung der Moderne hat die deutsche Risikovermeidungsgesellschaft produziert." Er stellt fest, dass wir uns in "Überwinterungszellen" zurückgezogen haben, in denen wir ein "relativ ungestörtes Auskommen haben können". Aber es kommt noch schlimmer: "Der Zwilling der Nischengesellschaft (...) ist die fortschreitende Abhängigkeit vom Staat." Von einer mehrheitlich aktiven, erwerbstätigen Bevölkerung geht der Weg unweigerlich hin zu einer mehrheitlich von staatlichen Transferleistungen abhängigen Bevölkerung.
Klassengesellschaft und neue soziale Ungleichheiten, das Verhältnis der Geschlechter und der Generationen, Erwerbsarbeit und der Kapitalismus - das alles sind, so Nolte, Herausforderungen, die dringend diskutiert werden sollten. So hoffnungslos scheint die Lage aber gar nicht zu sein. Denn die Rettung naht in Form einer neuen Bürgerlichkeit. Die Zukunft liegt in einem neuen Gemeinsinn: "Eine ,investive Gesellschaft', das ist eine Gesellschaft, die in bürgericher Selbstverantwortung ebenso wie in gemeinschaftlicher Solidarität ihre Ressourcen mobilisiert, ob es sich um materielle oder soziale oder moralische Ressourcen handelt; eine Gesellschaft, die Vorleistungen erbringt, um später die eigenen Chancen, die Chancen anderer zu vermehren." Das klingt schön.
Doch möchte Nolte nicht missverstanden werden: Ein "Ende des Staates" fordert er nicht. Allerdings bleibt er recht vage, wenn es darum geht, dessen konkrete Verwantwortlichkeit zu benennen. Und so läuft es am Ende doch auf die altbekannte "Reform"-Formel hinaus: mehr Eigenverantwortung und weniger staatliche Fürsorge.
Paul Nolte: Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus. Verlag C.H. Beck, München 2006; 313 S., 19,90 Euro