Wohl jedem Menschen in den mittleren Jahren widerfährt, dass er sich nach der Pubertät ein zweites Mal gründlich mit seinen Eltern auseinandersetzen muss: Haben Mutter oder Vater mich mehr geprägt, übernehme ich ihre Maßstäbe oder weiche ich sehr ab, welche Rolle spielen sie in meinem gegenwärtigen Leben, jetzt, wo auch ich längst erwachsen bin und sie womöglich nicht mehr leben? Diese Auseinandersetzung in reifen Jahren ist besonders wichtig, aber auch schwierig, wenn der Elternteil, mit dem man sich auseinandersetzen muss, sich in der eignen Jugendzeit gewissermaßen nicht "normgerecht" verhalten hat.
Ein "typischer Vater" war der frühere Bundeskanzler Willy Brandt wahrlich nicht, schon gar nicht für seine kleinen Kinder. Mit den halbwüchsigen oder erwachsenen Söhnen fiel es ihm dann leichter. Lars Brandt zitiert eine Bemerkung von Augstein, der in Bezug auf Willy Brandt meinte, mit diesem Mann nicht befreundet sein zu können, weil er nie die Kinderzimmer seiner Söhne besuchte.
Das tat er also nicht. Er streichelte und schmuste auch nicht und unternahm selten Versuche in Pädagogik. Aber "wie es schien, hatte er mich gern um sich". "Mir machte es oft großen Spaß, mit V. zusammen zu sein." "Beide angelten wir gerne" - und Lars kaufte die Ausrüstung, für den Vater immer eine Portion besser als für sich selbst. Und der bezahlte alles, ohne ein kritisches Wort.
"Andenken" ist ein besonderes Buch. Es vermag, die Person Willy Brandt privat zu beleuchten, ohne auch nur im Geringsten indiskret zu sein oder aus der Schlüsselloch-Perspektive persönliche Vorgänge in die Öffentlichkeit zu zerren, die dort nichts zu suchen haben. Lars Brandt sieht sich als Medium, "um zu jenem Teil der Wirklichkeit vorzustoßen, von dem nur ich erzählen kann". Und er erzählt gut. Knapp, auf das Wesentliche konzentriert, bildhaft und einprägsam.
In kleinen Abschnitten, dabei selten länger als eine Druckseite, der Chronologie seines und des Vaters Lebens folgend, beschreibt er Situationen oder Szenen, aus denen sich dann mosaikartig ein Bild dieses Vaters ergibt, den er ja von klein an kennt und so nimmt, wie er ist: Ein warmes Herz, nie ganz bei den anderen Menschen, wenn sie ihm als Einzelne vielleicht zu nahe kamen, nie völlig sein Schneckenhaus verlassend. "Für mich war V. weder Freund noch Feind. Er war Natur."
Es gelingt dem Autor, die Aura Brandts, die sich natürlich im Privaten anders zeigte als im großen Kreis und im politischen Arbeitsfeld, wieder lebendig werden zu lassen. Man spürt das Scheue, die Verletzlichkeit des Menschen, aber auch die einschüchternde Wirkung seiner Distanziertheit auf andere, die diese Mauer nur schwer überwinden konnten. Man spürt außerdem die Liebe, die diesen Sohn mit seinem Vater lebenslänglich und über den Tod hinaus verbindet.
Aber das hat nichts Beschönigendes an sich, denn man spürt auch, dass Willy Brandt es seiner Frau und seinen Söhnen nicht leicht gemacht hat, "weil über nichts gesprochen wurde". Sie hätten wohl gern mehr Nähe verspürt. Jedoch: "Er gab, was er zu geben hatte, auf seine Art."
Nebenbei erfährt man allerlei Amüsantes, beispielsweise, wie Lars Brandt sich mit den Kindern von Robert Kennedy abgeben sollte, aber unter den Kindern daran wechselseitig nicht das geringste Interesse bestand. Oder dass Willy Brandt in Norwegen eigenhändig eine Fischsuppe für das Ehepaar Wehner zubereitet hat. Auch die Kinderperspektive gegenüber Sicherheitsbeamten, Fahrer, Haushälterin und politischem Besuch findet ihren liebenswürdigen Ort.
Lars Brandt hat seinem Vater mehr als zehn Jahre nach dessen Tod ein Andenken geschenkt, das mit großer Genauigkeit reflektiert, wie Liebesbeziehungen beschaffen sind: "Irgendwann haben wir beiden einen Pakt geschlossen, auf den wir uns trotz allem, was uns trennte, verlassen konnten. Aber wann?" Das Entscheidende bleibt unerklärlich und unerklärt: "Kein Gedanke an ihn kommt geradlinig ans Ziel." - Ein schönes Buch.
Lars Brandt: Andenken. Carl Hanser-Verlag, München 2006; 160 S.,15,90 Euro
Anke Martiny hat in ihrer langen politischen Karriere als SPD-Bundestagsabgeordnete und später als Senatorin in Berlin mehrere Jahre im unmittelbaren Umfeld von Willy Brandt gearbeitet.