Das Buch von Edgar Wolfrum schildert die 60-jährige Geschichte der Bundesrepublik von der Besatzungszeit bis zum Ende der rot-grünen Koalition im Jahre 2005. Der Autor gliedert diese Entwicklung in vier Teile: Auf die konstituierende Phase der Adenauer-Zeit von 1949 bis 1959 folgt die Zeit von "Dynamik und Liberalisierung". Sie umfasst den Machtverlust des ersten Bundeskanzlers, die kurze Regierungszeit Ludwig Erhards, die Große Koalition und die SPD/FDP-Regierung Willy Brandts. Der dritte Teil beginnt mit dem Ölpreis-Schock von 1973 und reicht bis zum Vorabend der Wiedervereinigung Der vierte Teil schildert die Entwicklung von der Öffnung der innerdeutschen Grenzen bis zur "Berliner Republik" der Gegenwart.
Wolfrum verzichtet damit auf die Darstellung einer "Parallelgeschichte" von Bundesrepublik und DDR, wenn man von der angemessenen Berücksichtigung der Bonner Deutschlandpolitik absieht. Dagegen mag der Einwand einer westdeutschen Sichtweise erhoben werden. Sein Vorgehen ist aber unter methodischen Gesichtspunkten berechtigt und wohl auch der einzige Weg für eine in sich schlüssige Darstellung.
Nach dem Titel des Buches erwartet der Leser eine politischen Geschichte der Bundesrepublik. Wolfrums Darstellung geht aber über diesen engeren Bereich hinaus und schließt die gesellschaftliche Entwicklung einschließlich Kunst und Literatur bis hin zur Popkultur ein. Die Abschnitte über das juste milieu der Adenauer Zeit, über die 68er-Bewegung und über die verspätete Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gehören zu den bemerkenswerten Passagen des Buches.
Während Wolfrum in seiner Einleitung die "Restaurationsthese" für die Anfangsphase der Bundesrepublik noch als obsolet bezeichnet, muss er im weiteren Verlauf der Darstellung gravierende Restaurationstatbestände in den Verwaltungen und in der Wirtschaft einräumen. Den Bereich der Justiz berücksichtigt er in diesem Zusammenhang nicht. Die Außenpolitik der Bundesrepublik wird in den vier Teilen des Buches ausführlich geschildert. Zu offenen Fragen wie zu Stalins Motiven beim Notenwechsel ab dem 10. März 1952 und zur Deutschlandpolitik Berijas dokumentiert der Autor den Stand der Forschung.
Der außenpolitische Spielraum der Bundesrepublik wird hierbei vielleicht ein wenig überschätzt. Zur Westintegration in den 50er-Jahren drängt sich zum Beispiel die unausgesprochene Frage auf, ob die Besatzungsmächte und späteren Alliierten eine andere Option als diejenige Adenauers zugelassen hätten. Auch die "Souveränität" der Bundesrepublik ab 1955 bezog sich nicht auf die Situation Gesamtdeutschlands.
Wenn man die Geschichte der Bundesrepublik im Zeitablauf darstellt und in mehrere Phasen teilt, besteht die Gefahr, dass die Strukturen und die mit ihnen verbundenen Probleme zu kurz kommen. Wolfrum erwähnt zwar mehrfach die Politikverflechtung zwischen Bund und Ländern sowie die bremsende Rolle des Bundesrats. Er stellt aber nicht die Frage, ob es sich hierbei um ein Beispiel für "geglückte" Demokratie handelt. Ähnlich steht es um den periodisch diagnostizierten "Bildungsnotstand". Landespolitiker interessieren sich offensichtlich mehr für Bundesgelder, Subventionen aller Art und Prestigeobjekte wie Flughäfen, Auto- und Schnellbahnen. Verbesserungen im Schul- und Hochschulbereich sind dagegen erst langfristig wirksam und deshalb wenig attraktiv, zumal die Investitionen hier größtenteils als Personalkosten zu Buche schlagen.
Das für die Bundesrepublik charakteristische Phänomen der Kanzlerdemokratie begrenzt Wolfram auf die Regierungszeit des ersten Bundeskanzlers und erhebt damit eine Richtung der Adenauer-Forschung kurzerhand zum "Forschungsstand". Wichtige Fragen der Wirtschafts- und Sozialentwicklung hätten ausführlicher behandelt werden können. Das gilt etwa für die Konsequenzen der Währungs- und Sozialunion im Wiedervereinigungsprozess sowie für die Frage nach möglichen Alternativen zu den entsprechenden Entscheidungen der Regierung Helmut Kohls.
Nach der zutreffenden Kritik des Autors an Schelskys "nivellierter Mittelstandsgesellschaft" im Adenauer-Kapitel hätte man im weiteren Verlauf des Buches einen Rekurs auf die Vermögensverteilung erwartet, die mit dem Rückbau des Sozialstaates zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Insgesamt schildert Wolfrum das Panorama der bundesrepublikanischen Geschichte in eindrucksvoller Breite und mit einer übersichtlichen Gliederung. Seine Darstellung liegt vom Umfang her noch im Bereich des Lesbaren und wird durch Literaturhinweise, Tabellen, Register sowie eine Zeittafel sinnvoll ergänzt. Den roten Faden der "Erfolgsstory" wird allerdings nicht jeder Leser erkennen. Die gelobte Stabilität der Bundesrepublik kann in vielen Bereichen auch als Stagnation bewertet werden.
Bei der Lektüre wird auch deutlich, wie weitgehend die Zeitgeschichtsschreibung von den Fragen abhängt, die aus der Gegenwart an die Vergangenheit gestellt werden. Diese Fragen sind aber situationsbedingt und zum Teil sehr speziell. Ob eine historische Gesamtdarstellung diesen Ansprüchen gerecht wird, bleibt fraglich. Die Alternative hierzu wäre die Aufteilung in mehrere "Geschichten". Die Entwicklung von politischen Strukturen, von Gesellschaft und Wirtschaft, Kunst und Literatur müssten in diesem Fall separat untersucht und dargestellt werden.
Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2006; 695 S., 29,50 Euro
Professor Karlheinz Niclauß ist emeritierter Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Bonn.