Eine in Deutschland lebende Deutschlehrerin burjatischer Herkunft erzählt ihrer Studentin, einer weit gereisten Hamburger Journalistin, dass die "russische Seele" in ihrer Ganzheit und in ihren Widersprüchen am besten in Sibirien zu finden sei. Diesen Rat befolgte die Autorin, kaufte sich ein Flugticket nach Nowosibirsk und retour mit einer Gültigkeit von vier Monaten.
Die Reise beginnt im "Akademgorodok", setzt sich in einem Betriebsausflug in das Altaigebirge, danach in Irkutsk am Baikalsee fort und endet in der Hauptstadt der Republik der Burjaten, in Ulan-Ude. Die allerletzte Station ist dann Moskau, wo sie den Mann wieder sieht, den sie in Sibirien kennen gelernt hat. Sie fährt bis auf die letzte Etappe hauptsächlich mit der Transsibirischen Eisenbahn, aber auch mit Bussen, Autos und auf einem Schiff.
Die 1957 von Chruschtschow gegründete Stadt der Akademiker lernt Merle Hilbk durch ihren Gastgeber, den Russlanddeutschen Grigorie kennen. Er ist führender Mitarbeiter am dortigen Atomforschungsinstitut und ein viel beschäftigter Mann. Er ist ständig auf der Suche nach neuen Aufträgen, denn aus Moskau kommen lediglich 30 Prozent der für die Forschung benötigten Mittel.
Auch die frühere Professorin Wera Borodina ist eine profunde Kennerin der Markwirtschaft. Sie lehrte früher Mikroökonomie, eine Fachrichtung, die in der Sowjetära noch zu den Raritäten zählte. Heute leitet sie in Nowosibirsk Weiterbildungskurse für Manager und Politiker. Ihr Know-how ist die Fähigkeit zur Selbstständigkeit - eine Strategie, die heute in Russland alle brauchen. Ein Paradebeispiel für das Erfolgsrezept liefert die lokale Computerfirma, die eine Art "Internet-Offshore-Geschäft" betreibt. Ausländische Unternehmen geben Aufträge nach Sibirien und sind zufrieden.
In dem Kapitel, in welchem die Idylle der Altaigebirge beschrieben wird, heißt es: "Doch auf dem Betriebsausflug ist es so, als sei die alte Zeit zurückgekehrt. Neid, Hierarchien, Gehaltsunterschiede - im Camp am Toletzkoje-See zählt all das nicht. Denn im Camp ist jeder auf den anderen angewiesen. Wenn es nicht Mische, den Busfahrer, gäbe, der aus Autobatterien und Kabeln eine Lampe basteln kann, und Alexej, der weiß, wie man ein stundenlang brennendes Feuer entfacht, wenn es nicht Ilona und Luda gäbe, die aus Schweineschultern und Kartoffeln auf einem winzigen Gaskocher ein Festmahl für dreißig Leute bereiten, Pjotr und Tanja, die Wasser vom See in die Banja schleppen, gäbe es hier weder Licht noch Heizung, weder Essen noch Waschgelegenheiten, weder Ausflüge noch Tanz". Allem Anschein nach ist selbstständiges Handeln auch nach dem Eintritt des Feierabends gefragt.
Die Stadt Ulan-Ude ist ein historischer Ort des Lamaismus, einer Richtung des Buddhismus. Offenbar prägt diese Kultur die Stadt immer noch. In den letzten Jahren wurden Klöster wieder aufgebaut, eine ständige Buddhismus-Ausstellung eröffnet und ein Forschungsinstitut für tibetische Medizin gegründet. Hier lebt die allein stehende und durchaus bescheidene Gastgeberin Natalja mit ihrer Freundin Ljudmila, die an die Heilkraft der Schamanen glaubt und gerne den Club "Roter Oktober" besucht.
In dieser Ecke Ostsibiriens sind auch die Baikal-Amazonen zu Hause - Frauen, die in ihrer Freizeit mit ihren Ladas Wettkämpfe veranstalten. Viele von ihnen fühlen sich dem Schamanismus verpflichtet. Fahren sie an einem heiligen Ort vorbei, bringen sie Opfer, indem sie Kleingeld oder Wodka aus dem Fenster werfen oder schütten.
Ganz im Gegensatz zu den Zielen der Autofahrerinnen, die von der Gründung eines internationalen Frauenzentrums am Baikal-See träumen, steht die Punkband "Orgasmus Nostradamus". Hier musizieren Männer, denen der Alkohol- und Drogenkonsum nicht fern ist. Sie sind gegen die russische Bevölkerung Burjatiens eingestellt und wünschen sich und ihren Fans ein Burjatien ohne Russen. Sibirien ist eben groß und verschiedenartig.
Die Autorin hat ihr Ziel klar formuliert: Sie sucht die russische Seele. Allerdings: Statt zu suchen, lässt sie sich durch die Ereignisse leiten. Sie gerät in Situationen und staunt. Was sie tatsächlich interessiert oder gar begeistert, sagt sie nicht. Oft fühlt sie sich fremd, aber daraus macht sie keinen Hehl. Die Leser bekommen zwar einen bunten, aber keinen tiefen Einblick in den Alltag von Sibirien.
Reisende aus Osteuropa mit russischen Sprach- und Geschichtskenntnissen würden aller Wahrscheinlichkeit nach einen Reisebericht völlig anderen Inhalts auf den Tisch legen. Auch oder vielmehr insbesondere dann, wenn sie den gleichen Xenias, Olegs, Olgas, Grigoris, Marinas und Saschas begegneten. Eine und dieselbe Sache kann man eben aus grundverschiedenen Perspektiven betrachten und erleben. Das gilt auch für das Schreiben.
Merle Hilbk: Sibirski Punk. Eine Reise in das Herz des wilden Ostens. Gustav Kiepenheuer Verlag, Berlin 2006; 255 S., 17,90 Euro
Andrea Dunai lebt als freie Journalistin in Berlin, wo sie vorwiegend zu aktuellen osteuropäischen Themen arbeitet.