Rund 50 Jahre und einige Brecht-Bücher später legt Schumacher jetzt "Mein Brecht" vor. Zufall oder spielerische Absicht - das Buch hat fast den gleichen Umfang wie seine damals ungewöhnlich voluminöse Dissertation, die sich vor allem durch die Auswertung von seinerzeit unbekanntem oder entlegenem Material erklärt. Diesmal konnte Schumacher aus dem eigenen Archiv schöpfen: aus den Aufzeichnungen, die er nach seinen Begegnungen mit Brecht festhielt, und den Artikeln, die der in Bayern beheimatete Publizist damals schrieb, um den Hintergrund seiner Beziehung zu Brecht zu schildern.
Damit ist das Buch auch eine Doppelbiografie geworden, die des späten Brecht und des jungen Schumacher. Dieser, 1921 in Urspring am Lech geboren und aufgewachsen, kommt 1943 schwerverwundet von der Ostfront und beginnt an der Münchner Universität zu studieren, wo er bei dem "Theaterprofessor" Artur Kutscher in einem Rückblick auf die Lyrik der 20er-Jahre erstmals von Brecht hört. "Gefährliche sittliche und politische Inhalte - die größte Giftbeule der Revolution", das Urteil lässt Schumacher aufhorchen. Der Student, einem tiefkatholischen Milieu entstammend, beginnt nach Artikeln über Brecht zu suchen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit, als Schumacher sich etwas besser mit dem Werk Brechts vertraut machen kann, entschließt er sich, über Brecht zu promovieren.
Gleichzeitig - das Jahr 1947 kündigt mit Marshall-Plan und Trumans Politik die politische Spaltung in Deutschland an - schreibt er agitatorische und dabei sehr pathetische Deutschland-Gedichte. Als Journalist tritt er mit Beiträgen in Bayern und Ost-Berlin für die Einheit des Vaterlands ein, die auch nach Gründung der beiden deutschen Staaten von Repräsentanten der Kultur tatsächlich viel länger angestrebt wird als von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern beiderseits der ehemaligen Zonengrenze.
Schumacher verfolgt jeden Schritt: von der Währungsreform bis zur Wiederbewaffnung und zum Eintritt ins westliche Bündnis als eine dezidierte Politik Adenauers der West-Bindung und Verhinderung der Einheit - während die andere Seite gezwungenermaßen immer nur nachziehe, mit Staatsgründung, Kasernierter Volkspolizei sowie der längst vollzogenen Eingliederung in die sowjetische Hemisphäre und einem noch auf dem 4. Schriftstellerkongress der DDR 1956 bekundeten Bekenntnis zur deutschen Einheit.
Historiker mögen die politische Entwicklung anders einschätzen; im Zusammenhang mit dem 1948 nach Berlin zurückkehrenden Brecht gilt aber, dass auch dieser die Einheit im Versuch einer neuen, sozialistischen und nichtmilitaristischen Gesellschaft nicht nur befürwortete, sondern auch anstrebte. Die grausame Wahl zwischen "blutigen und abgehackten Händen", wie Brecht es formulierte, spricht davon, dass der Kalte Krieg eigentlich schon 1917 entfacht worden war, aber erst ab 1945 seine systemische Ausprägung im geteilten Europa erfuhr. An blutige Hände durfte zugunsten der nicht abgehackten Hände kaum erinnert werden, gerade in einem Deutschland nicht, das sich darum bemühte, das bessere zu werden.
Das ist der kritische Punkt, an dem Schumacher seine Erinnerungen allzu flächig und ideologisch eindimensional in seinen erinnerten Kampf für ein praktisch neutrales Nachkriegsdeutschland einsetzt. West wählt aus Angst, Ost aus Zwang - für beides gibt es unterschiedliche Perspektiven, die auch der bayerische Dickschädel vortrug, der später nach seiner Umsiedlung der berühmteste Theaterprofessor der DDR wurde und mit jeder Brecht-Welle eine neue Theorie parat hatte.
Frank Castorf, der bei ihm studierte, lernte, dass der frühe, anarchistische Brecht interessanter ist als der kanonische Brecht. Die Begegnungen mit Brecht, auch seine Theaterarbeit, wie sie Schumacher erlebte, sind hervorragend geschildert, bis hin zu den Beobachtungen der Frauen um Brecht und des tragischen Erlebnisses von Ruth Berlau, deren Situation als beiseite gestellte Mitarbeiterin und von der Beerdigung fern gehaltene Geliebte ungemein eindringlich geschildert wird.
Was Schumacher mit Brecht anlässlich seiner Dissertation bespricht, ist minutiös und aufschlussreich erzählt, etwa wenn er schildert, wie ein Kapitel zum linken Arbeitertheater der späten 20er-Jahre bei der Drucklegung einfach verschwand, weil die Protagonisten als spätere DDR-Funktionäre Belege früherer Abweichungen fürchteten. Für die "Nachgeborenen", an die sich der Autor nach über 50 Jahren Brecht-Forschung auch wendet, erklärt er dazu - gemessen am von der Leine gelassenen Umfang und darin auch die eigenen Gedichte preisenden Buchs - wenig.
Im Nachwort "Ein Gespenst geht um in der Welt", wieder dem "Kommunistischen Manifest" entlehnt, wird Schumacher umso deutlicher. Bei den Gedenkfeiern zu Brechts 100. Geburtstag sei dieser weiter entpolitisiert worden, ganz zu Unrecht. Schumacher führt Edmund Stoibers Augsburger Rede an, in der dieser feststellte, "dass Brechts Werk zunehmend herausgelöst werden soll aus dem weltanschaulichen Zusammenhang (...), um plötzlich als allgemeingültiges Werk der Literatur vereinnahmt zu werden".
Schumacher hält dagegen, dass Brechts Werk im Zeitalter von Turbokapitalismus und neuen imperialen Kriegen eine unbedingte Reaktualisierung erfährt, die keinesfalls aus dem weltanschaulichen Zusammenhang herausgelöst werden könne. Dem kann man zustimmen - und über die Würde des Menschen, der sich die Hände blutig macht, auch bei diesem Buch über Brecht lange nachsinnen.
Ernst Schumacher: Mein Brecht. Erinnerungen 1943 bis 1956. Henschel Verlag, Berlin 2006; 560 S., 19,90 Euro
Thomas Irmer arbeitet in Berlin als Theaterkritiker und Dramaturg, in jüngster Zeit vor allem für die Berliner Festspiele.