Längst ist der Jugendstrafvollzug nicht nur Sache der Justizminister, sondern liegt auch den Kollegen vom Finanzressort am Herzen: Haftplätze sind teuer, umso mehr, wenn man - was bei jungen Delinquenten erklärtes Ziel ist - Straftäter auf ein straffreies Leben in Freiheit vorbereiten will. Ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht könnte dazu führen, dass sich wieder die Justizexperten verstärkt des Themas annehmen müssen. Denn Karlsruhe könnte bald höchstrichterliche Maßstäbe zum Jugendstrafvollzug formulieren - gerade noch rechtzeitig, bevor die Regelungszuständigkeit im Zuge der Föderalismusreform auf die Länder übergehen wird.
Auf den ersten Blick scheint es allerdings nicht zwingend, dass sich Karlsruhe tief in die Materie hineinbegibt. Auslöser des Verfahrens, über das der Zweite Senat Anfang März verhandelt hatte, sind die Verfassungsbeschwerden eines Straftäters, der sich gegen die Postkontrolle und gegen verschiedene Disziplinarmaßnahmen wendet. Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits 1972 zum Erwachsenenstrafvollzug entschieden, dass derart gravierende Eingriffe in die Freiheit einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage bedürfen. Den Jugendstrafvollzug dagegen hat der demokratisch legitimierte Gesetzgeber trotz jahrzehntelanger Bemühungen bisher nicht geregelt - er basiert auf einigen wenigen Paragrafen. Wann beispielsweise Ordnungs- oder Überwachungsmaßnahmen zulässig sind, das haben die Landesjustizverwaltungen in bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften niedergelegt.
Doch der Zweite Senat will es nicht bei der Frage bewenden lassen, ob überhaupt eine neue gesetzliche Grundlage nötig ist, wie dessen Vorsitzender Winfried Hassemer deutlich machte: "Wir wollen wissen, wie die Grundlagen des Jugendstrafvollzugs aussehen sollen." Ringt sich der Senat dazu durch, hier neue Grundlinien zu formulieren, dürfte dies zwar den bisherigen Gesetzgeber - den Bund - nicht mehr kümmern. Verbindliche Standards könnten allerdings umso wichtiger werden, wenn künftig 16 Gesetzgeber darüber bestimmen, ob straffällige junge Menschen mit Pädagogen und Sozialarbeitern zu rechtstreuen Bürgern erzogen werden sollen - oder ob man hier lieber auf die harte Hand des Staates vertraut.
Schon jetzt stellt sich die Situation in den bundesweit 27 Jugend-Strafvollzugsanstalten äußerst heterogen dar, wie der Kriminologe Frieder Dünkel, Professor an der Universität Greifswald, herausgefunden hat. Das fängt bei den "Gefangenenraten" an: In Sachsen-Anhalt saßen (Stichtag 31. März 2005) 162 Jugendstrafgefangene pro 100.000 Einwohner im Gefängnis, in Sachsen 132 und in Mecklenburg-Vorpommern 124. Anders ist das Bild in den westlichen Bundesländern: Etwa 90 in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, 71 in Baden-Württemberg und 64 in Schleswig-Holstein.
Ähnlich verhält es sich mit den "Instrumenten" zur Erziehung der jungen Menschen für ein straffreies Leben - übrigens ein Vollzugsziel, das aus Sicht der Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff wohl Verfassungsrang genießt. Beispiel offener Jugendvollzug, der die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtern soll: In Bremen und im Saarland war er zum Stichtag nicht existent, in Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und Thüringen zählte man weniger als ein Dutzend Teilnehmer, in Sachsen, Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen dagegen befanden sich immerhin zwischen zwölf und 17 Prozent im offenen Vollzug.
Eine große Schwankungsbreite verzeichnete Dünkel auch bei der personellen Ausstattung: Die Zahlen der Gefangenen, die von einem Sozialarbeiter betreut werden, liegen zwischen 17 und 116 (Bundesdurchschnitt: 40). Bei den Psychologen waren es im günstigsten Fall 32, im ungünstigsten Fall 138 Gefangene (Durchschnitt: 86). Und Dünkels Prognose lautet, dass bei einer Verlagerung der Zuständigkeit auf die Länder der Spardruck wachsen könnte: "Was wir jetzt beobachten können, ist ein Wettbewerb der Schäbigkeit."
Bleibt die Frage, ob die Verfassungsrichter hier als Bremser wirken können. In der Verhandlung machten die Fragen von der Richterbank deutlich, dass eine verfassungsrechtliche Feinsteuerung des Jugendstrafvollzugs wohl nicht möglich sein wird - schon, weil sich das Gericht nicht den Vorwurf des Ersatzgesetzgebers einhandeln will. Lübbe-Wolff, die das Verfahren federführend als "Berichterstatterin" im Senat betreut, fragte nach empirischen Daten zur Resozialisierung - und musste erfahren, dass man in Deutschland bei der Rückfallforschung noch am Anfang stehe. Und Herbert Landau merkte an, der Erziehungsgedanke sei "ein weiter Begriff, von dem niemand weiß, wie er auszufüllen ist", und erkundigte sich nach den "Essentials" eines sinnvollen Jugendstrafvollzugs. Mehr als diese "Essentials" wird der Senat denn auch kaum aus dem Grundgesetz herauslesen können - Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) mahnte das Gericht jedenfalls zur Zurückhaltung bei etwaigen verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Behandlung junger Straftäter.