Nach den Fraktionssondersitzungen und jenen des Bundeskabinetts und der Regierungschefs der Länder am 6. März haben Bund und Länder ihren Willen bekräftigt, einer endlos scheinenden Diskussion ein glückliches Ende zu bereiten. Trotz weiter bestehender Bedenken vor allem in der SPD-Bundestagsfraktion. Bundeskanzlerin Merkel jedoch ist überzeugt, dass dies ein guter Tag für die bundesstaatliche Ordnung war. Sie meint, dass so etwas nur eine Große Koalition leisten könne. Dem ist auf den ersten Blick nicht zu widersprechen. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, dass dies ohne die Opposition, beispielsweise die FDP, nicht möglich ist. Denn die Reform braucht bei den vorgesehenen Grundgesetzänderungen eine Zweidrittelmehrheit, derer sich die Koalition derzeit nicht unbedingt sicher sein kann. Noch ist sie also längst nicht im Kasten.
Reform hat im deutschen Sprachgebrauch und wie im Politikbewusstsein längst nicht mehr den guten Klang wie in jener Zeit, als Willy Brandt mit diesem Begriff noch Wahlen gewann. Dennoch bleibt der Satz richtig: Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen, also für Veränderungen sorgen. Die endlose Geschichte der Föderalismusreform ist von Widersprüchen und Paradoxien geprägt. Die rühren auch von Unklarheit der geschichtlichen Begriffe und von gegenläufigen Entwicklungen in Europa her. Während die geplante deutsche Föderalismusreform in Europa als Erfolgsgeschichte gilt, ist sie zu Hause im Gerede, gerade in Zeiten des Kampfes gegen die Vogelgrippe und dem Seufzen über das angeblich und tatsächlich zersplitterte Schulwesen.
Andererseits zeigte die Wende in der DDR, dass der Föderalismus der deutschen Geschichte entspricht, dass er hier gewachsen und keineswegs der Pfropf der Besatzungsmächte auf der deutschen Eiche ist. Bald waren im Wendeherbst 1989 neben dem Schwarz-Rot-Gold der deutschen Einheit die sächsischen Farben der deutschen Vielfalt zu sehen; die "neuen" Länder mit altem Selbstbewusstsein stifteten Identität.
Hinzu kommt: Deutschland ist als Zentralstaat fürchterlich gescheitert - zuerst und mit einem nie geahnten Zivilisationsbruch im Dritten Reich und danach unter anderen Vorzeichen, und mit den NS-Verbrechen nicht gleichzusetzen, in der DDR. Beide Regime hatten den Föderalismus abgeschafft. Der wird übrigens nur in den Vorurteilen auch vieler Deutschen noch immer mit Partikularismus oder gar Separatismus und Kleinstaaterei verwechselt. Und apropos Kleinstaaterei: Der frühere Bevollmächtigte Bremens beim Bund und heutige Indentant der Deutschen Welle, Erik Bettermann, beruft sich bei der Verteidigung der "Kleinen" im Bund gern auf einen europäischen Vergleich Helmut Kohls mit Luxemburg. Die deutschen Nachbarn achteten sehr wohl darauf, wie wir mit unseren kleineren im Bund umgingen.
Ein Blick in die Nachbarschaft: Belgien wäre wegen seines wallonisch-flämischen Grundkonfliktes beinahe zerrissen worden, wenn es sich nicht rechtzeitig föderalisiert hätte. Auch das nach dem Muster des zentralistischen Frankreich aufgebauten und entgegen seiner geschichtlichen Natur ebenfalls ziemlich zentrale Italien hat sich in den 70er-Jahren regionalisiert. Seine Regionen haben zwar weniger staatliche Eigenschaften als deutsche Länder, sind aber doch weit mehr als französische Provinzen. Und selbst Frankreich hat entdeckt, dass es besser fährt, wenn es nicht alle Wege nach oder aus Paris weist.
Andererseits hat in anderen föderalistischen Staaten, wie den USA, Kanada oder Österreich, der "Bund" keineswegs so wenig zu sagen, wie es unser Bund nun trotz und mit Bildungsministerin Annette Schavan künftig tun soll. Darauf machen Föderalismuskenner- und -kritiker immer wieder aufmerksam. In den USA rührt das auch daher, dass "federalism" dort die Stärkung des Gesamtstaates, bei uns aber die seiner Teilstaaten meint. Überall geht es aber um dasselbe Prinzip, welches das einzig tragende Bauelement einer europäischen Einigung sein kann: Einheit in Vielfalt und Vielfalt in Einheit.
Wie das aber aussehen soll, darüber muss gestritten werden. Das kann nicht in einem einzigen parlamentarischen Verfahren gemeistert werden. Der Diabolos, der große Durcheinanderbringer, steckt gerade hierbei in den Einzelheiten, wie Franz Müntefering (SPD) und Edmund Stoiber (CSU), die Väter dieser Mutter aller Reformen, schmerzlich erfahren mussten. Der eher wortkarge Sauerländer und der viel wortreichere Bayer hatten sich wegen der Blockaden der jeweiligen Bundestagsmehrheiten durch politisch andersfarbige Bundesratsmehrheiten längst auf diese Reformarbeit verständigt - um der Regierungs- und Lebensfähigkeit des demokratischen Staates und seiner Konkurrenzfähigkeit in der Welt Willen. Deshalb fiel es der Union mit der Fraktionsvorsitzenden Angela Merkel nicht schwer, im Juli 2003 im Bundestag Franz Müntefering zuzustimmen, als er die "Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" vorschlug.
"Münte" und "Edi" schätzen einander und hielten und halten, trotz parteipolitischer Gegnerschaft, zusammen wie ein Castor und Pollux der Erneuerung des deutschen Föderalismus. Als sie sich im Herbst 2004 schon in der gemeinsamen Kommission aus Bundestag und Bundesrat einig schienen - allerdings ohne genügende Einbindung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), der aufstrebenden CDU-Vorsitzenden Angela Merkel sowie der jener Unionsministerpräsidenten, die Stoiber keineswegs unbestritten als Nummer 1 in ihrem Kreis anerkennen - kam es zum Eklat. Am 20.12.2004 scheiterte die Reform, natürlich, am Hin und Her zwischen Bund und Ländern in der Bildungspolitik. In diesem Augenblick schien der Kernsatz aller politischen Kompromisse vergessen zu sein: Geb´ ich dir, gibst du mir.
Die beiden ließen jedoch nicht locker und fanden bald in Bundespräsident Horst Köhler einen diskreten, aber wirkungsvollen Verbündeten, der zur Weiterarbeit ermahnte und die beiden am 10. Januar 2005, bewusst medienwirksam und durchaus in deren Sinn, zur Berichterstattung und Ermutigung ins Bundespräsidialamt einbestellte. Die sonst keineswegs immer einigen Unionsgeschwister Merkel und Stoiber blieben dran an diesem Ball. Sie forderten in ihrer Einladung an Bundeskanzler Gerhard Schröder zum "Jobgipfel" am 17. März 2005 ausdrücklich die Wiedereröffnung der Föderalismusbaustelle und den Abschluss dieses weit greifenden Umbaus.
Müntefering und Stoiber steckten danach im April und Mai 2005 im Büro des bayerischen Regierungschefs in der Berliner Landesvertretung des Freistaates nächtelang die Köpfe zusammen. Die besondere Koalition überstand sogar den "Wahlstreich" des Bundeskanzlers und die anschließenden Neuwahlen.
Die Große Koalition machte die Föderalismusreform zu einem Prüfstein ihrer Zusammenarbeit. Dabei wird abermals eine gewisse geschichtliche Paradoxie sichtbar: Ausgerechnet eine Große Koalition soll nun die Vermischungen, Verwischungen und Verwässerungen der eigentlich klaren Zuständigkeiten im deutschen Föderalismus aufheben, die zu einem guten Teil die Reformpolitik der Großen Koalition von 1966 bis 1969 verursacht hat. Erst seit dieser Zeit gibt es die wachsende Verflechtung in den Gemeinschaftsaufgaben und eine von allen beklagte, aber auch bei diesem nun anstehenden "wuchtigen Reformschritt" (Stoiber) nicht veränderte Finanzverfassung von Bund und Ländern.
Nun hat die Große Koalition rasch Wort gehalten und sich auf die Einbringung dieses verfassungsändernden Paketes verständigt. Es geht um nicht weniger als 20 Grundgesetzartikel und 16 zusätzliche Gesetzesänderungen. Das aber ist ohne die FDP, die in vielen Ländern mitregiert, nicht zu machen. FDP-Chef Guido Westerwelle hat sich die für die FDP essentielle Zusage der Chefs der beiden Koalitionsfraktionen daher schon eingeholt: "Herr Kauder und Herr Struck haben mir zugesagt, dass es bei den Verabredungen der Koalition mit der FDP bleibt und die Reform der Finanzverfassung zügig in einem Schritt angegangen wird."
Nach den Sondersitzungen der Ministerpräsidentenkonferenz und der Fraktionen am 6. März, wird sich erst in nächster Zeit erweisen, ob das "Paket" unaufgeschnürt seine Adressaten erreicht oder ob sich der Erfahrungssatz bestätigt, dass noch nie in einem Gesetzgebungsverfahren und schon gar nicht bei einer Grundgesetzänderung Entwürfe Bundestag und Bundesrat so verlassen haben, wie sie hineingekommen waren.
Noch sind die Kritiker nicht verstummt. Sie haben Verbündete in allen Fraktionen, vor allem bei den "Netzwerkern" der SPD um Generalsekretär Hubertus Heil, aber auch bei der früheren FDP-Generalsekretärin Cornelia Pieper und einigen Bundesministern. Es wäre eine schiefe Pointe dieser endlosen Geschichte, wenn die Vorarbeiter der Föderalismusreform ausgerechnet bei solchen Kernfragen von Bundestag und Bundesrat ein Volkskammerverhalten erwarteten. Das widerspräche nicht nur dem Grundgesetz, sondern bestätigte leider abermals die geschichtliche Erfahrung, dass solche Reformen dann nicht notwendig wären, wenn sich alle an Sinn und Buchstaben des Grundgesetzes gehalten hätten. Es hätte dann keine Flut der Zustimmungsgesetze im Bundesrat und keine wechselseitigen politischen Blockaden gegeben, und auch keinen Mischmasch der Zuständigkeiten.
Aber das Grundgesetz selbst birgt Widersprüche in sich. Es ist leichter gesagt als getan, dass die Länder über den Bundesrat an Verwaltung und Gesetzgebung des Bundes mitwirken sollen. Aus der Mitwirkung hatten sowohl "Rot" als auch "Schwarz" zeitweilig Gegenregierungen gemacht. Und auch der bedeutende Verfassungsartikel 31 "Bundesrecht bricht Landesrecht" war leichter aufgeschrieben als verwirklicht. Diese Spannung zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit wird auch nach den Veränderungen bestehen bleiben, wenn sie denn so beschlossen werden. Die unendliche Geschichte der Reform aller Reformen ist also noch lange nicht zu Ende.