Afghanistan
Vieles ist erreicht worden - das Klima der Unsicherheit wird aber immer größer
Die Reporterin kam aus dem Staunen nicht heraus. Fast euphorisch schloss ihr Artikel mit den Worten: "Alles ist möglich. Und es wird auch geschehen." Zusammen mit Hunderten von Zuschauern hatte sie gerade die Aufführung von Brechts "Kaukasischem Kreidekreis" auf dem Kabuler Theaterfestival gesehen und war begeistert von dem afghanischen Ensemble. Schauspielgruppen aus dem ganzen Land waren nach Kabul gekommen - darunter viele junge Frauen. Der Satz vom Land, in dem alles möglich ist, lässt sich derzeit in Afghanistan wohl in zwei Richtungen auslegen. Selbstmordanschläge und Entführungen auf der einen, das Engagement und die Erfolge von Hilfsorganisationen auf der anderen.
Trotz einer erhöhten internationalen Militärpräsenz ist das Land insgesamt nicht sicherer geworden. In Kabul gehen weniger Fremde in Restaurants und auf die Strasse. Zwischen Afghanen und Ausländern hat sich ein gewisses Mißtrauen eingeschlichen.
Zwar profitieren deutsche Hilfsorganisationen im Norden nach wie vor von Sicherheitshinweisen der Bundeswehr, zugleich gibt es das Bemühen, sich vom Militär zu distanzieren - auch unter Deutschen. So verlegte beispielweise die Deutsche Welthungerhilfe ihr Büro von Kundus nach Taloqan. DWHH-Generalsekretär Hans-Joachim Preuß sprach auf dem jüngsten Afghanistan-Parteitag der Grünen in Göttingen von einer "schleichende Militarisierung" des Wiederaufbaus, die eine "gefährliche Entwicklung" für die zivilen Aufbauhelfer bedeute.
Ebenfalls im Norden tätig ist der deutsche Verein "Afghanistan-Schulen". In den vergangenen Jahren hat er in der Region von Andkhoi, unweit der Grenze zu Turkmenistan, 30 Schulgebäude neu gebaut und weitere acht von Grund auf saniert. Eine Mitarbeiterin erzählt von "immer ermutigenderen Zeichen". Zu Taliban-Zeiten wurden hier 800 Mädchen privat unterrichtet. Heute gehen wieder 10.000 offiziell zur Schule.
Allerdings wurde letztes Jahr in Andkhoi auch eine neue Madrassa, eine Koranschule, im Zentrum der Stadt errichtet. Es heisst, die Initiatoren kämen aus Pakistan, die Gelder für den Bau aus dem arabischen Ausland. In den umliegenden Dörfern gibt es Befürchtungen, dass Mädchen erneut an der Schulbildung gehindert werden könnten. Im letzten Jahr wurde ein afghanischer Mitarbeiter des Vereins ermordet. Dass der Mord in Zusammenhang mit dem Bau der Schulen steht, glaubt der Verein nicht. Bis heute sind die Täter von Andkhoi nicht gefasst. Denn nach wie vor gibt es keinen funktionierenden Justiz-Apparat in Afghanistan. Die Stiftung Wissenschaft und Politik, einer der Think-tanks der deutschen Politik, kritisiert offen die fehlende Strategie der Italiener als "Lead-Nation" beim Aufbau eines Justiz-Apparates. Und auch Deutschland habe die selbst gesteckten Ziele beim Polizei-Aufbau noch nicht erreicht. Abdul Hai, Angehöriger der afghanischen Grenzpolizei, kritisiert die zögerliche Haltung: "Ein Knüppel und eine Handpistole reichen für einen Grenzpolizisten in Afghanistan nicht aus. Das habe ich vor mehreren Jahren mit unseren deutschen Freunden besprochen. Aber erst jetzt wird das Problem erkannt." Weil die afghanische Polizei als korrupt gilt, fehlt das Vertrauen in Staat und Regierung.
Im Juli, so US-General Richard Durbin, zählte die Polizei 70.000 der angepeilten 82.000 Beamten: "Davon sind bisher nur 40 Prozent ordentlich ausgerüstet. Beim Aufbau der afghanischen Armee sind wir ebenfalls in Verzug", so Durbin. Polizei und Armee hätten nicht zuletzt deshalb weit mehr Opfer zu beklagen als die NATO.
Währendessen geht auch im Land die Diskussion um die Mandate weiter: Hinsichtlich der ISAF wird dabei oftmals das so genannte "holländische Modell" genannt, dessen Schwerpunkt Beobachtern zufolge "auf Entwicklung statt immer neuen militärischen Aktionen" liege. Aus afghanischer Sicht zählt jedoch vor allem eins: Jeder Angriff bei dem unter NATO-Ägide zivile Opfer zu beklagen sind, lässt die Menschen an der ISAF und ihrer Strategie zweifeln. "Warum schaltet das US-Militär nicht gezielt Bin Laden und die Taliban aus? Sie haben doch die nötige Waffentechnologie", ist eine der Meinungen, die man auf Kabuls Straßen hört.
Im Alltag bleiben Militär und Bevölkerung auf Distanz. Trotzdem heißt es, dass viele Afghanen wollen, dass die ausländischen Truppen bleiben. Nochmal im Stich gelassen zu werden, wie nach dem Abzug der Sowjets 1989, ist für viele ein Horror-Szenario. Zugleich verlangt die Opposition im Parlament, dass erkennbar wird, wie lange die Präsenz ausländischer Truppen noch dauern wird.
Auch wirtschaftlich braucht das Land Anreize. In Kabul ist nicht nur die Arbeitslosigkeit hoch. Über 30.000 Abiturienten finden keinen Studienplatz. Die Unzufriedenheit unter den Absolventen ist groß. Viele bemühen sich daher um Unterricht an privaten Einrichtungen, was sich nicht jeder leisten kann. Wer aber ohne Arbeit oder Ausbildung ist, ist auch anfälliger für kurzfristige finanzielle Versprechungen und radikale Ideen. Daneben herrscht, trotz allem, afghanische Normalität. Unsicher, sagt eine deutsche Helferin, fühle sie sich vor allem dann, wenn sie während ihres Heimaturlaubs in Deutschland die Schlagzeilen über Afghanistan lese.