Innere Sicherheit
Die Vorstöße der Minister Jung und Schäuble bringen die Koalition in Schwierigkeiten
Das Bundesverfassungsgericht fand klare Worte: "Unter der Geltung des Artikels 1 Absatz 1 GG (Menschenwürdegarantie) ist es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten. [...] Auch die Einschätzung, dass die Betroffenen ohnehin dem Tod geweiht seien, vermag der Tötung unschuldiger Menschen in der geschilderten Situation nicht den Charakter eines Verstoßes gegen den Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen."
So steht es im Urteil vom 15. Februar 2006. Die Karlsruher Richter waren zuvor angerufen worden, um über das Luftsicherheitsgesetz der Bundesregierung zu urteilen. Im Kern ging es dabei um die Frage: Darf der Staat Flugzeuge abschießen, die von Terroristen entführt und "als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen" eingesetzt werden sollen, auch wenn sich darin unschuldige Passagiere befinden? Darf er nicht, sagte das Bundesverfassungsgericht damals klar. Man könne nicht Leben gegen Leben abwägen - auch wenn dabei vielleicht die Leben Weniger geopfert würden, um die vieler Anderer zu retten. Es war ein viel diskutiertes Urteil, aber eben eines des Bundesverfassunsgerichts und damit sakrosankt.
Einigermaßen überraschend verkündete Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) Ende vorvergangener Woche, er würde im Falle einer Flugzeugentführung und eines geplanten Anschlags mit diesem Flugzeug einen Abschuss befehlen. "Wenn es kein anderes Mittel gibt, würde ich den Abschussbefehl geben, um unsere Bürger zu schützen", so der Verteidungsminister in einem Interview. Er werde dann für sich das "Recht des übergesetzlichen Notstands" in Anspruch nehmen. Gleichzeitig forderte Jung eine verfassungsrechtliche Klarstellung dieser Frage. Das Bundesverfassungsgericht habe zwar den Abschuss einer entführten Maschine auf die Fälle beschränkt, in denen nur Terroristen keine Unschuldigen an Bord seien - "aber wenn es eine gemeine Gefahr ist oder die Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, dann gelten andere Regeln".
Momentan allerdings gilt für die Bundeswehrpiloten, die im Fall der Fälle den Abschussbefehl auszuführen hätten, das Soldatengesetz. Und das besagt in Artikel 8, "der Soldat" müsse "die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes anerkennen und durch sein gesamtes Verhalten für ihre Erhaltung eintreten". Befehle habe der Soldat "nach besten Kräften", so Artikel 11, auszuführen -aber es liege kein Ungehorsam vor, "wenn ein Befehl nicht befolgt wird, der die Menschenwürde verletzt". Jung ist sich dieser Problematik bewusst. Er kündigte an, im Falle eines geplanten Abschusses nur Piloten fliegen zu lassen, die auch bereit seien, den Befehl auszuführen.
Beim Koalitionspartner und in der Opposition sorgte das Jung-Interview für Entsetzen - zumal zeitgleich auch der Bundesinnenminister mit beunruhigenden Aussagen an die Presse ging. Es sei nur eine Frage der Zeit, so Wolfgang Schäuble (CDU), bis es zu einem Anschlag mit nuklearem Material komme. Panik sei dennoch fehl am Platze - "es hat keinen Zweck, dass wir uns die verbleibende Zeit auch noch verderben, weil wir uns vorher schon in eine Weltuntergangsstimmung versetzen". Mit diesen Worten wollte sich die Opposition ebensowenig abfinden wie mit der Ankündigung Jungs, unter Umständen die Verfassung brechen zu wollen: In zwei aktuellen Stunden - am 19. und am 20. September - mussten sich die beiden Bundesminister der teils heftigen Kritik stellen.
Deutlich wurde dabei allerdings nicht nur die Verärgerung der Opposition, die mit ihrer Forderung nach einer Regierungserklärung scheiterte. Auch der Graben, der derzeit die Koalition auf dem Feld der Innenpolitik scheidet, wurde deutlich sichtbar. Die Angriffe einiger SPD-Redner auf die beiden CDU-Minister ließen beinahe vergessen, dass sich da im Plenum nicht Regierung und Opposition beharkten, sondern Koalitionspartner miteinander debattierten. Schäuble und Jung, so Frank Hofmann (SPD) wollten den Rechtsstaat nicht weiterentwicklen, "sie wollen ihn zerschießen". Noch drastischer wurde der frühere SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter: Es sei nicht Aufgabe des Innenministers, "seinen Wochenendfrust in Sonntagsinterviews über uns auszuschütten".
Auch die Opposition nutzte die Gelegenheit, um wie erwartet zum Schlag gegen die beiden Minister auszuholen. Jung könne einen außergesetzlichen Notstand nicht antizipieren, so die FDP-Justizexpertin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger - ein solcher könne nur in Erwägung gezogen werden, wenn es um die persönliche Verantwortung in einer ganz konkreten Situation gehe und es "also bereits zu einem solchen Konflikt gekommen ist". Das lerne man im "ersten Semester des Studiums der Rechtswissenschaften". Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) forderte Jung auf, sein Amt zu quittieren. Auch für Schäuble gab es harte Worte. Wolfgang Wieland (Bündnis 90/Die Grünen) warf dem Innenminister vor, "mit dem Vorschlaghammer auf die bewährte Sicherheitsarchitektur" einzuschlagen und als Verfassungsminister "untragbar" zu sein. Schäuble sei ein "typischer Fall für den Verfassungsschutz", so die Linken-Abgeordnete Petra Pau. Er forciere den größten Umbau in der Geschichte der Bundesrepublik weg vom demokratischen Rechtsstaat "zum präventiven Sicherheitsstaat".
Die so Kritisierten verteidigten ihre Position - nicht ohne ihren Unmut über die Form der Kritik kundzutun. Franz Josef Jung betonte, das Bundesverfassungsgericht habe sich ausdrücklich nicht zu der Frage geäußert, wie sich die Rechtslage bei der "Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind", darstelle - für diese Situation brauche man eine Klarstellung. "Verheerendste und menschenverachtendste Angriffe auf unser Gemeinwesen" dürften nicht außerhalb, sondern müssten "gerade mit den Mitteln der Rechtsordnung" bekämpft werden - eben dies bedeute wehrhafte Demokratie.
Nichts stelle den Rechtsstaat mehr in Frage als die Behauptung, "auf seiner Grundlage sei man extremsten Formen terroristischer Angriffe wehrlos ausgeliefert". Wolfgang Schäuble betonte, er habe in dem strittigen Interview lediglich wiederholt, was der Chef der Uno-Atomkontrolleure, Mohammed Al-Baradei, bereits festgestellt habe: dass es die größte Sorge der Experten sei, Terroristen könnten eine so genannte schmutzige Bombe zünden. Dies sei weder neu, noch "gibt es konkrete Hinweise darauf, dass uns in Deutschland ein derartiger Anschlag droht". Er diskutiere gern darüber, wie die gesetzlichen Grundlagen gestaltet werden müssten, die die Sicherheitsbehörden benötigten, um auch weiterhin gute Arbeit zu leisten, aber er wehre sich gegen Diffamierungen. Schäuble klagte: "Sie unterstellen einem abwechselnd, man wolle die Verfassung abschaffen oder man sei geisteskrank."
Beistand gab es für die Minister allein aus den Reihen der Union. Clemens Binniger (CDU) warf FDP und Grünen vor, sich seit Jahren den notwendigen sicherheitspolitischen Maßnahmen zu verweigern. Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass die Mehrheit der Bevölkerung beim Thema Terrorismusbekämpfung "einen starken Staat" wolle. Stephan Mayer (CSU) warf den anderen Fraktionen vor, die Kritik und die Attacken mancher Kollegen gingen "bis an die Grenze der Verleumdung und des menschlich Erträglichen". Sowohl FDP und Grüne als auch Teile der SPD betrieben "eine schäbige, unverantwortliche Betroffenheits- und Empörungspolitik". Die Koalition ist mit diesem Schlagabtausch eine schwere Krise geraten - und es ist nicht klar, wie sie auf absehbare Zeit wieder herausfindet. Er sei "verärgert" über den Koalitionspartner, sagte der stellvertretende Unions-Fraktionschef Wolfgang Bosbach am Freitag dieser Zeitung. Die Stimmung in der Koalition sei schlecht und das gemeinsame Arbeiten werde darunter leiden. Nach seiner Einschätzung sei mit der SPD über die von Jung angestrebte Grundrechtsänderung nicht zu reden. "Das ist eine ganze schwierige Phase."
Doch auch wenn Union und SPD sich wider Erwarten auf einen gemeinsamen Entwurf einigen könnten, der einen terroristichen Angriff als Kriegsfall nach Artikel 87 des Grundgesetzes definiert und das Recht auf Selbstverteidigung auslöst, ist unklar, ob diesem vor dem Verfassungsgericht nicht das gleiche Schicksal beschieden wäre wie dem Luftsicherheitsgesetz. Während der Göttinger Verfassungsrechtler Werner Heun den von Jung angedachten Weg für "prinzipiell gangbar" hält, ist der Versuch einer Verfassungsänderung für seinen Hannoveraner Kollegen Volker Epping aussichtlos. Er sagte dieser Zeitung, auch der Verteidigungsfall "setzt die Menschenwürde und Artikel 1 des Grundgesetzes nicht außer Kraft". Einig sind sich beide Experten darin, dass eine Abschussermächtigung keinesfalls regelbar ist und allein Jung die Verantwortung übernehmen müsste. Der Minister kann also nur verlieren - denn ohnehin könnte ihn niemand aus dem moralischen Dilemma, das mit der Entscheidung einherginge, befreien.