Grüne
Der Parteitag von Göttingen könnte erst der Anfang einer umfassenden Kurskorrektur sein
Viele Grünen-Abgeordnete zeigen sich derzeit unfreiwillig von ihrer sportlichen Seite. Spagat heißt die Übung, die ihnen die Parteibasis auferlegt hat. Einer der wackeren Turner ist Fraktionschef Fritz Kuhn. Im Bundestag erklärte er in der vergangenen Woche, dass er wie viele in der Fraktion für die Fortsetzung des Einsatzes der ISAF-Schutztruppe in Afghanistan und der Tornado-Aufklärungsflüge ist; dass aber die Mehrheit der Grünen-Parlamentarier am 11. Oktober dennoch mit Nein stimmen oder sich enthalten wird.
Rückblende. Es ist Samstag, 15. September, 17.24 Uhr, Lokhalle Göttingen. Soeben hat die Bundesdelegiertenkonferenz (BDK), das oberste Beschlussgremium der Partei, ihr Spitzenpersonal kalt abgeduscht. Der Leitantrag von Reinhard Bütikofer und Co., ein nach Wochen des Streits mühsam errungener Kompromiss, ist bei der Basis glatt durchgefallen. Die Grünen-Oberen wollten ihren 51 Bundestagsabgeordneten das Abstimmungsverhalten zum Afghanis-taneinsatz der Bundeswehr freistellen. Stattdessen beschließt der Parteitag mit satter Mehrheit, dass die Fraktion einem verbundenen Mandat für den weiteren Einsatz der ISAF-Schutztruppe und der Tornado-Flugzeuge nicht zustimmen soll. Was bedeutet der Göttinger Parteitag nun für die Grünen außer dem Spreizschritt für einige ihrer Parlamentarier - zurück zu den pazifistischen Wurzeln oder "Tschüss, Regierungsfähigkeit", wie bereits einige unken?
Tage nach dem Debakel wirkt der Grünen-Chef im Europaparlament, Daniel Cohn-Bendit, noch immer fassungslos. "Diese Partei, und das muss man kritisieren, ist schizophren", sagt er dieser Zeitung. Die "grüne Seele" befinde sich in einem "Dilemma zwischen realistischen Ansprüchen und Ansprüchen, die von einer Bauchidentität abgeleitet werden". Auf dem Parteitag ist er für sein offenes Ja zu dem Mandat für ISAF plus Tornados ausgebuht worden. "Das ist der helle Wahnsinn gewesen, was da argumentativ entwickelt wurde", echauffiert sich Cohn-Bendit. So habe Robert Zion, einer der Initiatioren des Sonderparteitages sowie des erfolgreichen Basisleitantrags, die zur Aufklärung eingesetzten Bundeswehr-Tornados gleichgesetzt mit den sowjetischen MIG-Bombern, die in den 80er-Jahren Tod und Leid über die afghanische Bevölkerung gebracht hätten.
Zion, ein 41-jähriger Gelsenkirchener, hat aber auch andere Dinge gesagt. Zum Beispiel kritisierte er deutlich die Grünen-Oppositionsarbeit im Bundestag. Welche Bundesregierung, fragte Zion, fühle sich unter Druck gesetzt, "wenn sogar die Opposition für ihre Politik stimmt?" Der donnernde Applaus für Zion machte den Unmut über "die da oben" deutlich. Zum Grimm dürfte ohne Frage der Streit auf offener Bühne beigetragen haben, in den sich die fünf Ober-Grünen - neben Bütikofer seine Co-Vorsitzende Claudia Roth, die Fraktionschefs Fritz Kuhn und Renate Künast sowie ihr Stellvertreter, Ex-Bundesminister Jürgen Trittin - im Vorfeld des Parteitages verkeilt hatten. "Die Lust, denen zu sagen, so geht's nicht, hat das ganz sicher beeinflusst", analysiert Cohn-Bendit das Verhalten der Delegierten.
Bütikofer schwitzt. Vergangener Montag, 13.50 Uhr, Grünen-Bundeszentrale in Berlin. Nach der Sitzung des Parteirates müht sich der Vorsitzende nach Kräften, die Wogen zu glätten. Natürlich sei der Parteitag "eine Rebellion der Basis" gewesen, "was denn sonst?", räumt er unumwunden ein und, klar, "ohne Fehler der Führung hätte es diese Niederlage nicht gegeben." Wer welche Fehler gemacht und wer welchen Anteil an dem Debakel habe, will er nicht öffentlich besprechen. "Die Detailanalyse gehört hinter die Tür der Gremien", sagt Bütikofer. Auch wisse er von niemandem, der von Rücktritt geredet hätte, er jedenfalls nicht, fügt er hinzu. Aber die Führungscrew müsse ihre "Hausaufgaben für den nächsten Parteitag besser machen". Auf Nachfrage präzisiert er, es sei notwendig, die Kommunikation zwischen Basis und "Berlin" zu verbessern.
Viel Zeit dafür bleibt nicht. Schon in zwei Monaten gibt es die nächste BDK, dieses Mal regulär und in Nürnberg. Wird sich der "Lafontaine-Sog", wie Cohn-Bendit "die Tendenz der Refundamentalisierung der Grünen" nennt, dann fortsetzen? Er wird, vermutet Cohn-Bendit und verweist auf die anstehende Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen. Dazu passt, dass der neue Basis-Held Robert Zion nach eigenem Bekunden bereits an einem Antrag für Nürnberg bastelt, der eine radikale Abkehr von der "Agenda 2010" zum Ziel hat.
Von dieser Gemengelage könnte erhebliche Gefahr für die Grünen ausgehen, erläutert der Parteienforscher Jürgen Dittberner im Gespräch mit dieser Zeitung. "Wenn die Basis sich durchsetzt, dann würde das wieder ein ganz wilder Verein werden. Dann könnte sich die Frage der Existenz der Grünen stellen", betont der Potsdamer Professor. Wie sich die Stimmung in der Parteiebene entwickelt, wird stark davon abhängen, wie die Grünen-Bundestagsabgeordneten in Sachen Afghanistan-Mandatsverlängerung entscheiden. Derzeit sieht es so aus, als komme die Mehrheit der Fraktion der Vorgabe der BDK nach.
Für Dittberner sind das Debakel der Grünen-Spitze und die ihr vorangegangenen Ränkespiele Ausdruck eines verspäteten Erbfolgestreits. "Ich denke, dass bei den Grünen der Konflikt um die Nachfolge von Joschka Fischer, der der heimliche Vorsitzende der Partei war, jetzt ausbricht", sagt der Professor. Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Außenministers hat sich Fischer rar gemacht in seiner Partei, auch der Göttinger BDK blieb er fern. Wie es scheint, hat keiner der Aspiranten auf die Nachfolge als (inoffizielle) Nummer Eins bei den Grünen Kapital aus Göttingen schlagen können - womit der Partei das Thema wohl noch lange erhalten bleiben wird.
Von den Querelen bei den Grünen könnte vor allem die FDP profitieren, meint Dittberner. Die Liberalen würden versuchen, die Grünen als "unzuverlässige Partei" darzustellen, um sich für ein schwarz-gelbes Bündnis ohne grünen Jamaika-Schuss zu empfehlen. Gleichwohl, so der Professor, treffe der Grünen-Beschluss zu Afghanistan eine in der Bevölkerung weit verbreitete Stimmung. "Vielleicht wird das ja auch vom Wähler honoriert", schließt er eine überraschende Pointe nicht aus.