Drei Millionen Tote
Das Schicksal russischer Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg
Nach den Opfergruppen der Hitler-Herrschaft gefragt, würden die meisten Deutschen so-fort die Juden nennen. Besser Informierte würden noch Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle und politische Gegner aufzählen. Eine Gruppe allerdings würde wohl kaum genannt: die russischen Kriegsgefangenen. Drei Millionen von ihnen starben in deutscher Gefangenschaft. Sie wurden erschossen, verhungerten, verdursteten oder schufteten sich zu Tode. Nach den europäischen Juden waren die sowjetischen Kriegsgefangenen die zweitgrößte Opfergruppe. Wie gründlich und systematisch die Vernichtung der sowjetischen Kriegsgefangenen war, belegt die Statistik: Von den englischen und amerikanischen Kriegsgefangenen kamen 3,5 Prozent um, von 5,7 Millionen gefangenen Rotarmisten starben 57,5 Prozent.
Damit ihr Schicksal nicht in Vergessenheit gerät, hat der Verein Kontakte eine Sammlung von Briefen ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener veröffentlicht. Der Verein versucht mit Spenden, einstigen Häftlingen den Lebensabend zu erleichtern. Daraus hat sich ein Briefwechsel mit zahlreichen ehemaligen Gefangenen entwickelt. Viele sind der Bitte des Vereins nachgekommen und haben ihre Erfahrungen während der Gefangenschaft geschildert.
Für einen Großteil der Häftlinge begann ihr Märtyrium im Laufe der gigantischen Kesselschlachten 1941, kurz nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion. Hunderttausende Soldaten der völlig überforderten Roten Armee ergaben sich. Die Wehrmachtsführung hatte mit gewaltigen Massen an Gefangenen gerechnet, für ihre Versorgung aber keinerlei Vorkehrungen getroffen. "Nicharbeitende Kriegsgefangene haben zu verhungern", heißt es in einer Mitteilung des Generalquartiermeisters an die Stabschefs.
Bei wochenlangen Märschen verloren tausende unterernährte und entkräftete Rotarmisten ihr Leben. In der 6. Armee galt beispielsweise der Befehl, alle schlappmachenden Kriegsgefangenen zu erschießen. In riesigen Lagern hausten tausende Häftlinge in selbst gegrabenen Erdlöchern unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. "Wir Soldaten waren für die Faschisten nichts wert. Sie betrachteten uns als Untermenschen, schlugen uns und ließen uns (…) hinter Stacheldraht, unter freiem Himmel verhungern. Bis heute ist mir unbegreiflich, wie sehr ein Mensch den anderen erniedrigen kann", erinnert sich Michail Iwanowitsch Leontjew.
Im Laufe des Jahres 1942 nahm das tausendfache Sterben in den Lagern ab, auch die Massenerschießungen wurden eingeschränkt. Der Grund: Der gravierende Arbeitskräftemangel in der deutschen Kriegswirtschaft sollte durch den Einsatz sowjetischer Kriegsgefangener kompensiert werden. Die Rationen wurden zwar angehoben, blieben aber weiterhin unterhalb des Existenzminimums. Der tägliche Kampf um Brot zieht sich wie ein roter Faden durch die von den Herausgebern ausgewählten 60 Briefe.
Die über 80 und 90 Jahre alten Veteranen schildern die Taten brutaler Wärter, unmenschliche Arbeitsbedingungen und zahlreiche Geschichten voller Grausamkeiten. Umso erstaunlicher und anrührender ist es, dass bei aller Bitterkeit kein Brief voller Hass auf die Deutschen ist. So schreibt Nikolaj Iwanowitsch Djatschenko, "dass die Deutschen auch unterschiedlich waren (…)", es gab "jene, die sehr grausam zu mir waren, als auch jene, die heimlich ihr Brot mit mir teilten". Dies zeigt schmerzlich, wie viel mehr möglich gewesen wäre, die Not der Gefangenen zu lindern.
Der Verein Kontakte hat ein ebenso erschütterndes wie lesenswertes Buch herausgegeben. Die Dankbarkeit der einstigen Opfer, dass ihnen jemand Gelegenheit gibt, ihre Geschichte zu erzählen, wird an vielen Stellen deutlich. So schreibt Stepan Kirijanowitsch Kowalenko: "Ich freue mich, dass unsere Schicksale Ihnen nicht gleichgültig sind. Vielen Dank von ganzem Herzen."
"Ich werde es nie vergessen." Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004-2006.
CH. Links Verlag, Berlin 2007, 274 S., 19,90 ¤