NS-Unrecht
Wolfram Wette und Detlef Vogel fordern die Rehabilitierung verurteilter »Kriegsverräter« - aus gutem Grund
Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein." Im Jahr 1978 löste diese Äußerung des damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger einen Sturm der Empörung aus. Der christdemokratische Politiker hatte versucht, sich mit diesem Satz zu rechtfertigen, nachdem bekannt geworden war, dass er in der Endphase des Zweiten Weltkrieges als Marinerichter an der Verhängung von Todesurteilen gegen Wehrmacht-Deserteure beteiligt gewesen war.
"Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein" - dieser Satz stellte in doppelter Hinsicht eine Bankrotterklärung dar. Er ließ nicht nur jegliche persönliche Distanzierung zur Diktatur des Nationalsozialismus vermissen, sondern negierte obendrein jeden Unterschied zwischen dem NS-Unrechtstaat und einem demokratischen Rechtstaat. Über Monate erhitzte und polarisierte der Fall Filbinger die Gemüter. Am 7. August 1978 trat Filbinger schließlich vom Amt des Ministerpräsidenten zurück.
Auch wenn sich Filbinger in großen Teilen der Öffentlichkeit desavouiert hatte, hatte seine umstrittene Aussage noch lange Zeit Gültigkeit in der Bundesrepublik, und in Teilen gilt sie bis heute noch - zumindest juristisch. Erst 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges fand sich im Deutschen Bundestag eine Mehrheit, um die Urteile der NS-Militärgerichte gegen Deserteure pauschal aufzuheben. Am 17. Mai 2002 verabschiedete der Bundestag das entsprechende Gesetz mit den Stimmen von SPD, Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP. Union und Liberale bestanden auf Einzelfallprüfungen.
Ausgenommen von der pauschalen Rehabilitierung wurden jedoch jene Deserteure, die beispielsweise zu den Alliierten übergelaufen waren, sich Partisanengruppen in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten angeschlossen oder dies versucht hatten. Als "Kriegsverrat", die militärische Variante des Landesverrats, wurde dies in der damaligen Militärjustiz bezeichnet und in den meisten Fällen mit dem Tod bestraft. Aufgehoben werden können diese Urteile bis heute nur nach einer Einzelfallprüfung.
Den verurteilten "Kriegsverrätern" haben die Militärhistoriker Wolfram Wette und Detlef Vogel ihre umfangreiche Dokumentation mit dem vielsagenden Titel "Das Letzte Tabu. NS-Militärjustiz und ,Kriegsverrat'" gewidmet. Die Autoren verstehen ihre Publikation ganz bewusst als einen "Appell an den Gesetzgeber, der häufig nur über öffentliche Initiativen erreichbar ist", die bis heute gültigen Urteile gegen "Kriegsverräter" aufzuheben. Für dieses Ziel setzt sich Wette auch als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V. ein.
Trotz dieser deutlichen Positionierung, verlassen die fünf Autoren des Bandes - neben Wette und Jung arbeiteten die Historikerin Ricarda Berthold, der Jurist Helmut Kramer und der Militärhistoriker Manfred Messerschmidt an der Publikation mit - zu keinem Zeitpunkt den Pfad einer wissenschaftlich fundierten und sauberen Darstellung. Das müssen sie auch nicht, denn sie haben überzeugende Argumente vorzuweisen.
Die vielleicht besten Argumente bietet die umfangreiche Dokumentation von 29 Urteilen von NS-Militärgerichten gegen 63 Wehrmachtsanghörige wegen "Kriegsverrat". Deren Lektüre macht vor allem eines deutlich: Die Paragrafen 57 bis 61 des Militärstrafgesetzbuches zum "Kriegsverrat" stellten eine Art Gummiparagrafen dar, mit dessen Hilfe alle Arten von Vergehen bestraft werden konnten. Und sie vermitteln einen guten Eindruck, wie dieses Instrumentarium in den Dienst des nationalsozialistischen Terrors gestellt wurde. So wurden Wehrmachtssoldaten eben nicht nur wegen Fahnenflucht und Kooperation mit feindlichen Streitkräften und Partisanen verurteilt und hingerichtet. Auch die Hilfe für Juden konnte mit dem Tod bestraft werden. Dies resultierte aus der nationalsozialistischen Vorstellung eines "Rassekrieges", in dem auch Juden als Feinde galten.
Ebenso veruteilt wurden Soldaten wegen ihrer politischen Gesinnung, wenn diese in Opposition zum NS-System stand. So genügten beispielsweise den Militärrichtern im Falle des Stabsgefreiten Josef Salz judenfreundliche und kritische Bemerkungen über Adolf Hitler und die Wehrmacht in dessen Tagebuch, um ihn als "Kriegsverräter" zum Tode zu verurteilen.
Angesichts der zusammengetragenen Urteile mag auch die offizielle Haltung der Bundesregierung nicht zu überzeugen. Eine pauschale Aufhebung der Urteile der NS-Militärgerichte wegen "Kriegsverrats" lehnt sie bis heute ab. In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Juni 2006 ( 16/1749 , 16/1849 ) gab sie an, es komme darauf an, "ob infolge des Verrats zusätzliche Opfer unter der Zivilbevölkerung und/oder deutschen Soldaten zu beklagen waren oder ob infolge des Verrats derartige Opfer gerade vermieden wurden".
Die Autoren des "Letzten Tabus" stellen mit Recht die Frage, wie dies 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges im jeweiligen Einzelfall geprüft werden soll. Die verfügbaren Anklageschriften und Urteile gegen "Kriegsverräter" würden schließlich nur die Sichtweise der NS-Militärgerichte wiedergeben. Und diese hätten nun nachweislich nicht nach den Grundsätzen unabhängiger Gerichte eines demokratischen Rechtstaates gearbeitet. Zudem stelle sich die Frage, welche Erkenntnisse den Verdacht rechtfertigen, "Kriegsverräter" hätten durch ihr Handeln zusätzlich zum Tod von Zivilisten oder deutschen Soldaten beigetragen. Schließlich hätten sie selbst im Falle einer Zusammenarbeit mit den alliierten Streitkräften oder Partisanen lediglich zu einer schnelleren Beendigung eines verbrecherischen Angriffskriegs beigetragen. In ihrer Antwort auf die Anfrage der Linksfraktion musste die Bundesregierung dann auch einräumen, dass es zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes über die Aufhebung der Urteile gegen Wehrmacht-Deserteure im Jahr 2002 keinen "abgeschlossenen Forschungsstand zum Thema Kriegsverrat" gegeben habe.
Die Autoren des "letzten Tabus" bestätigen dieses Eingeständnis. Das Thema sei wissenschaftlich bislang kaum untersucht worden, gezielte Untersuchungen lägen bislang nicht vor. Dies sei auch ein Grund dafür, dass über die "Kriegsverräter", ihre Handlungen und Motive oftmals falsche Vorstellungen kursierten. Ähnliches sei auch im Falle der Wehrmachts-Deserteure in der Vergangenheit so gewesen. Die nationalsozialistische Indoktrination habe nach 1945 in den Köpfen der Menschen noch immer ihre Wirkung entfaltet. In der deutschen Gesellschaft habe erst ein Lernprozess einsetzen müssen, um Deserteure vom Makel des Verrats freisprechen zu können. Gleiches gelte auch für jene Exil-Deutschen, die vom Ausland aus gegen den Nationalsozialismus kämpften - dies habe sich sehr deutlich im Fall des späteren Bundeskanzlers Willy Brandt gezeigt. Ein solcher Lernprozess müsse nun auch im Fall der "Kriegsverräter" einsetzen. Das von Wette und Jung vorgelegte Buch bietet dafür eine gute Grundlage.
Wette fasst die Ergebnisse des Bandes so zusammen: "Die meisten der verurteilten Kriegsverräter leisteten auf unterschiedlichste Weise politischen Widerstand gegen das NS-Regime, andere halfen verfolgten Juden oder Kriegsgefangenen, wieder andere desertierten und liefen zu den Partisanen über. Selbst die einseitig von der Betrachtungsweise der NS-Militärrichter geprägten Quellen lassen erkennen, dass die meisten Fälle von ,Kriegsverrat' politisch oder moralisch/ethisch motiviert waren. Wer Widerstand gegen das verbrecherische NS-Regime für legitim hält, darf die Kriegsverräter infolgedessen nicht ausschließen."
Immerhin scheint innerhalb der Bundesregierung der von Wette geforderte Lernprozess eingesetzt zu haben. Am 21. Juli dieses Jahres erklärte Justizministerin Brigitte Zypries anlässlich der Eröffnung der Wanderausstellung "Was damals Recht war" mit Hinweis auf die Forschungsarbeit Wettes: "Ich meine, dass die Studie dem Gesetzgeber Anlass geben sollte, neu darüber zu diskutieren, ob man nicht auch die Verurteilungen wegen Kriegsverrats pauschal aufheben sollte." Es wäre sicherlich ein Akt der Wiedergutmachung an diesen Verratenen des NS-Regimes.
Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat.
Aufbau-Verlag, Berlin 2007; 507 S., 24,95 ¤