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Gültig ab: 31.05.2006 10:26
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Soziale Schere bei Bewegung und Fitness

Bild: Streckübungen im Strandbad: Die Fitness bei Jugendlichen ist seit 1995 zurückgegangen.
Streckübungen im Strandbad: Die Fitness bei Jugendlichen ist seit 1995 zurückgegangen.

Bild: Beschluss zur Fusion mit dem NOK: DSB-Bundestag im Dezember 2005.
Beschluss zur Fusion mit dem NOK: DSB-Bundestag im Dezember 2005.

Bild: Neue Sportwünsche: Trendsport Skateboarding.
Neue Sportwünsche: Trendsport Skateboarding.

Bild: Keine Leistung ohne intakte Sportstätten: Senioren beim Sportabzeichen.
Keine Leistung ohne intakte Sportstätten: Senioren beim Sportabzeichen.

Forum: Sport in der Gesellschaft

Wenn am 9. Juli das letzte Spiel der WM angepfiffen wird, werden die Deutschen einen Titel sicher haben: den im Zuschauen. Wenn beim Finale im Gastgeberland nicht wenigstens 35 Millionen Deutsche vor dem Fernseher sitzen, müsste schon ein Wunder geschehen. Fernsehen ist nämlich nicht nur die liebste Freizeitbeschäftigung der Deutschen; besonders gern sehen sie vom Sofa aus Athleten zu: Ob Fußball, Fahrradfahren oder Formel 1 – die Faszination, die sportliche Großereignisse ausüben, ist enorm. Fern des Sofas lässt die Begeisterung für den Sport leider etwas zu wünschen übrig. Nur etwas mehr als jeder vierte Deutsche treibt laut einer Umfrage der Europäischen Union mindestens zweimal in der Woche Sport.

Zuzugeben traut sich das allerdings kaum jemand. Das EUStatistikinstitut Eurostat hat gut daran getan, den Bürger im Jahre 2005 konkret zu fragen, wie oft und wie lange er körperlich aktiv ist. Denn das schlechte Gewissen der Unsportlichen ist offenbar so groß, dass sie auf die Frage „Treiben Sie Sport?“ regelmäßig zu zwei Dritteln „Ja“ sagen, weil sie sich ein „Nein“ nicht trauen. Ein Phänomen, das Statistiker „antworten nach sozialer Erwünschtheit“ nennen. Offenbar hat sich also herumgesprochen, was zahllose Studien belegen: Dass regelmäßige Bewegung das A und O des Gesundheitserhalts ist. Bewegung hält Geist und Körper fit, schützt vor Herz- und Kreislauferkrankungen und Infarkten, beugt der Volkskrankheit Rückenleiden und vermutlich auch der Depression vor und verhindert gerade bei Älteren Knochenbrüche und Muskelschwund.

Fragt man die Ehrlichen, warum sie so wenig Sport treiben, ähneln sich die Angaben: Der Sport passe nicht in den Zeitplan, es gebe keine Gleichgesinnten in der Nähe, man sei so lange raus, habe andere Hobbys. Vielleicht am besten bringt es der anonyme Nutzer eines Unsportlichen-Internetforums auf den Punkt: „Wollt ihr eine ehrliche Antwort, wer schuld ist? Der berühmte innere Schweinehund.“

Zielgruppen der Zukunft

Das Argument der mangelnden Gesellschaft zählt ohnehin kaum noch. In der individualisierten Welt geht der Trend dahin, sich allein zu trimmen. Als der Deutsche Sportbund (DSB) Ende 2004 den Sportwissenschaftler Christian Wopp zu einer Zukunftstagung einlud, zählte der den Funktionären eine ganze Serie Trends auf, die mit dem herkömmlichen Vereinssport nichts zu tun hat. Die drei Zielgruppen der Zukunft, so Wopp, seien erstens schon aus demografischen Gründen die Senioren, die nicht nur gern den Seniorensport besuchten, sondern auch joggten, wanderten, schwömmen oder Golf spielten. Zweitens die immer größer werdende Gruppe derer, die lange jung bleiben wollten – die Nutzer der Wellness-, Anti-Aging-, Bauchmuskel- und Yoga-Angebote der Fitnessstudios und Sportvereine. Und drittens die abenteuerlustigen Kids, die beim Sport auch etwas erleben und sich als Teil ihrer Stadt begreifen wollten: an der Kletterwand, mit dem Skateboard oder auf dem Mountainbike. Alles in allem, so Wopp, liege die Zukunft im „Megathema Gesundheitssport“ und bei Ausdauerund Fitnesssportarten einerseits – und andererseits in den Szenesportarten, die die bunten Bilder liefern.

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Nun könnte man meinen, dass der Deutsche Olympische Sportbund – seit dem 20. Mai bilden der ehemalige Deutsche Sportbund und das Nationale Olympische Komitee eine gemeinsame Organisation – unter dieser Entwicklung leidet. Das ist aber gar nicht der Fall: Während Parteien und Gewerkschaften ihre Mitglieder einbüßen, wächst der organisierte Sport immer weiter: 90.000 Sportvereine in Deutschland bewegen 23 Millionen Mitglieder; und immer noch kommen jedes Jahr Tausende dazu. Allein 6,3 Millionen Menschen spielen Vereinsfußball. Am anderen Ende der Skala finden sich Sportarten wie Rugby, Wasserski oder Moderner Fünfkampf, die immer noch mehrere zehntausend Mitglieder begeistern.

„Wir haben keinen Grund zum Jammern“, konstatiert der DOSB-Sprecher Harald Pieper, „offenbar haben die Vereine die Herausforderung durch neue Sportarten und den demografischen Wandel erkannt.“ Letzterer schlägt tatsächlich mit Macht auf die Statistiken durch: Stellten Senioren im Jahr 1995 acht Prozent der Mitglieder, waren es 2005 bereits 14,1 Prozent. Steigerungsraten verzeichnen die Vereine auch bei den insgesamt immer noch unterrepräsentierten Frauen. Dass den Sportvereinen insgesamt eine absolute Spitzenrolle zukommt, fanden auch die Verfasser des 1999 vom Bundesfamilienministerium erstellten Freiwilligensurveys heraus: Jeder zehnte Bundesbürger – elf Prozent – engagiert sich freiwillig im Sport, das ist absoluter Rekord in den Ressorts des Ehrenamts.

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Defizite bei der Motorik

„Von einer Krise der Vereine kann keine Rede sein“, erklärt auch Wolf- Dietrich Brettschneider. Der Sportwissenschaftler von der Uni Paderborn hat kaum einen Bereich des deutschen Breiten- wie Vereinssport noch nicht empirisch untersucht. Er hat das Sportverhalten an sich, die Jugendarbeit in Vereinen, den Sport in der Schule unter die Lupe genommen und zusätzlich die Berufsaussichten von Spitzensportlern und die Effizienz der Eliteförderung an sportbetonten Schulen überprüft. Auch im Sport, beobachtet Brettschneider derzeit, öffnet sich eine soziale Schere. „Auf der einen Seite gibt es ein paar immer Aktivere, auf der anderen eine größer werdende Gruppe, die sich gar nicht mehr bewegen und die man böswillig als ‚fett, faul und unfit’ beschreiben könnte.“ Unter Minderjährigen werde diese Gruppe zum Beispiel bestimmt durch jenes Drittel Grundschüler, die einen Schulweg von unter einem Kilometer mit dem Auto gebracht werden und jenes Viertel der Jugendlichen, das jeden Tag drei Stunden und mehr vor dem Fernseher sitzt. „Wer sich das Bewegungsverhalten in den Familien anguckt, darf sich nicht wundern, dass jedes fünfte Kind Übergewicht hat“, sagt Brettschneider, „wer sich sonst gar nicht bewegt, bräuchte täglich zwei Stunden Sport zum Ausgleich.“ Die mehr Sport plus Bewegungstheorie und Ernährungslehre am allernötigsten hätten, sind genau die, die es ohnehin am schwersten haben und am schwersten zu erreichen sind: sozial Schwache mit niedrigem Bildungsgrad, Arbeitslose, Ausländer, Unterprivilegierte.

Sport ist aber nicht nur unerlässlich, um die immer früher zugelegten Extrapfunde loszuwerden. Auch die motorischen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen werden messbar schlechter, wenn sie nichts tun. Ein bundesweiter Bewegungs-Check-up der Initiative „Fit sein macht Schule“ von AOK, DSB und dem Wissenschaftlichen Institut der Ärzte (WIAD) von 2003 kommt zu dem Ergebnis, dass die Fitness von Zehn- bis 14-Jährigen seit 1995 um über 20 Prozent zurückgegangen ist. Vor allem im Bereich der Koordination sowie in der Ausdauer wurden Verschlechterungen gemessen. Die Untersuchung belegt auch, dass Schulsport viel bewegen kann: In allen Übungen schnitten Schüler, die drei oder mehr Stunden Schulsport hatten, besser ab.

Problemfeld Sportstätten

Doch auch am Sportunterricht hapert es: Laut Brettschneiders bundesweiter Schulsportstudie „Sprint“, die im vergangenen Jahr für Aufsehen sorgte, fällt jede vierte Sportstunde aus; auch schaffen es von den in den meisten Lehrplänen verankerten drei Stunden häufig nur zwei in den Stundenplan. Und Lehrer, die Sport unterrichten, sind, vor allem an Grund- und Hauptschulen, gar nicht in Sport ausgebildet. Als Gründe macht „Sprint“ eine unterschätzte Bedeutung des Sportunterrichts von Schulleitern wie Kultusministern, aber auch einen Mangel an Sportstätten aus: Sieben Prozent aller Sporthallen und zehn Prozent aller Leichtathletikanlagen sind in einem mangelhaften oder ungenügenden Zustand. Noch schlechter sieht es beim Schwimmen aus: Mehr als jede fünfte Schule hat kein Schwimmbad zur Verfügung oder nutzt es nicht.

Der Zustand der Sportstätten ist bundesweit ein gravierendes Problem: Nach Einschätzung des DSB sind 40 Prozent aller Sportanlagen – das sind insgesamt 170.000 – sanierungsbedürftig. Geschätzter Finanzbedarf: 42 Milliarden Euro. Angesichts dessen, sagt Pieper, hätten die Bundesmittel, die in den „Goldenen Plan Ost“ fließen, „eher Symbolcharakter“. Drei Millionen Euro investiert die Bundesregierung in diesem Jahr in das Sportstättenförderprogramm für Sportanlagen der neuen Länder; noch einmal so viel schießen sowohl Länder als auch Kommunen zu.

Die Hauptlast der Sportförderung fürjedermann in Deutschland trägt aber nicht der Bund: Die 127,2 Millionen Euro, die der Bund in diesem Jahr investiert, kommen mit Ausnahme des „Goldenen Plans Ost“ der Spitzensportförderung zugute: Das Innen- und Verteidigungsministerium finanzieren Olympiastützpunkte und Leistungszentren, die Sportfördergruppen der Bundeswehr, Anlagen für Leistungssportler und den Kampf gegen Doping. Für die breite Masse der Sporttreibenden sind die Länder und insbesondere die Kommunen zuständig. Oder, immer häufiger, die freie Wirtschaft oder die Vereinsmitglieder. Vielleicht ändert sich daran ja etwas, wenn sich eine der beliebtesten Forderungen der Sportfunktionäre durchsetzt: eine Verankerung des Sports im Grundgesetz. In der EU-Verfassung steht er schon.

Text: Jeannette Goddar
Fotos: Picture-Alliance, AOK
Grafiken: Marc Mendelson
Erschienen am 6. Juni 2006

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