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Freiheitswillen und Lebensfreude

Junge Männer spielen vor dem Reichstagsgebäude Fußball
Fußballspielen vor dem Reichstagsgebäude 1978
© Picture-Alliance/DB Bratke

Im Schatten von Mauer und Todesstreifen

Zwar entscheidet sich der Bundestag für den Wiederaufbau des Reichstagsgebäudes. Aber die Räumlichkeiten unmittelbar neben der Mauer werden über Jahrzehnte nur am Rande für die parlamentarische Arbeit genutzt. Für öffentliche Aufmerksamkeit sorgt die Ausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte”. Die Frage nach der Zukunft Deutschlands findet 1990 eine beeindruckende Antwort: Im Reichstagsgebäude kann die erste Sitzung des Parlaments des wiedervereinigten Deutschlands eröffnet werden.

Legendär sind die Worte, die Berlins Oberbürgermeister Ernst Reuter am 9. September 1948 an die „Völker der Welt” richtet. Vor mehreren Hunderttausend Menschen ruft er die Welt auf: „Schaut auf diese Stadt.” Die Menschen und die Medien schauen bei diesen Worten auf die Ruinen des Reichstages. Er steht an der Grenze zwischen Ost und West. 13 Jahre später wird die Mauer unmittelbar an seinem Ostportal vorbeiführen.

Die Großdemonstration vom September 1948 während des sowjetischen Versuchs, die Berliner in den Westsektoren durch eine beispiellose Blockade auszuhungern, ist nicht die einzige Freiheitsbekundung vor dem Westportal der Ruine. Und so wird das Gemäuer mit schwersten Kriegsschäden zu einem Symbol für den Durchhaltewillen der Berliner im Westen der Stadt. Die Zweifel, ob ein Wiederaufbau überhaupt möglich ist, werden leiser. 1950 stellt der Bundestag erste Mittel bereit, damit die gut 30.000 Kubikmeter Schutt abgetragen werden können. Außerdem will er ein Bild davon gewinnen, ob und wie eine Instandsetzung möglich ist. In diesem Zusammenhang kommt es 1954 zu einer Entscheidung, die das Bild des Reichstagsgebäudes auf Jahrzehnte verändert: Die Reste der Kuppel werden entfernt — die Standsicherheit sei nicht mehr gewährleistet, lautet die Begründung.

Frau vor der durchbrochenen Berliner Mauer Anfang 1990, im Hintergrund das Reichstagsgebäude
Nach dem Mauerfall Anfang 1990
© ullstein bild/Schlemmer
Die „Enttrümmerung” zieht sich bis September 1957 hin, dann geht es darum, Schritt für Schritt die Substanz zu erhalten, vereinzelt werden auch Teile des Daches und der Fassaden saniert. Die Überzeugung wächst, dass eine neue dauerhafte Verwendung für das Reichstagsgebäude gefunden werden muss. Anfang der 60er-Jahre kommt die „große Lösung” in Gang: Der Architekt Paul Baumgarten stellt einen Gebäudeteil nach dem anderen wieder her und macht sich zudem daran, einen neuen Plenarsaal zu schaffen. 1963 tagt am 11. November zum ersten Mal nach über drei Jahrzehnten wieder ein parlamentarisches Gremium, der Ältestenrat des Deutschen Bundestages.

Todesstreifen am Ostportal

Der ehemalige irische Präsident Patrick Hillery besichtigt 1984 die Berliner Mauer
Irlands Präsident Patrick Hillery (2. von links) besichtigt die Berliner Mauer 1984
© BPA/Harald Hoffmann
Sieben Jahre später ist auch der Plenarsaal fertig. Und damit ist nicht nur das äußere Bild (wegen der nun fehlenden Kuppel und den entsprechend zurückgebauten Ecktürmen) ein anderes geworden. Auch im Innern hat eine vollkommen andere Architektursprache Einzug gehalten: die nüchterne Moderne der 60er-Jahre. Weite Teile des Gebäudes sind regelrecht „entkernt” worden, die Größe des Plenarsaals wurde mehr als verdoppelt, alte Stützen wurden entfernt, historisches Gemäuer kaschiert. Auch die Höhe der Büros entspricht damals modernen Vorgaben. Dadurch verfügt das Reichstagsgebäude über rund 5.000 Quadratmeter mehr Nutzfläche als der alte Bau. Im Plenarsaal finden nun (inklusive der Galerien) über 2.300 Menschen Platz. Daneben gibt es 21 Sitzungssäle mit insgesamt noch einmal über 1.700 Plätzen und fast 200 Büroräume unterschiedlicher Größe — das reicht für die Arbeit von Präsidium, Ausschüssen, Fraktionen und Verwaltung. Vor allem die Berliner Bundestagsabgeordneten nutzen fort an die Büros im wieder hergerichteten Reichstagsgebäude.

Der 100. Jahrestag der Reichsgründung wird 1971 im Reichstagsgebäude begleitet von einer neuen, beeindruckenden Dauerausstellung, die fortan jährlich von rund einer halben Million Besucher besichtigt wird: „Fragen an die deutsche Geschichte”. Der Titel weist weit über die Exponate und Beschreibungen hinaus. Was wird aus Deutschland? Was aus Berlin? Was aus dem Reichstagsgebäude? Seit 1961 läuft der Todesstreifen nur wenige Meter am Reichstagsgebäude vorbei. Es gehört zum Besuchsprogramm fast aller Staatsgäste in Berlin, von einem Aussichtspunkt am Tiergarten oder vom Dach des Reichstagsgebäudes auf die Mauer und die Ostberliner Mitte der geteilten Stadt zu schauen.

Bundestag im Reichstagsgebäude

Ehemaliger Wachturm am Mauerstreifen 1990
Die Grenze hat ihren Schrecken verloren: ein ehemaliger Wachturm am Mauerstreifen 1990
© BPA/Engelbert Reineke
In den 50er- und 60er-Jahren bemühen sich Bundestag und Bundesregierung, die Zugehörigkeit Berlins zum Westen immer wieder demonstrativ zum Ausdruck zu bringen. Das Plenum kommt verschiedentlich in Berlin zusammen, etwa in der Technischen Universität in Berlin-Charlottenburg oder in der gerade fertig gewordenen Kongresshalle mit Blick auf das Reichstagsgebäude. Anfänglich geschieht das mit Unterstützung nicht nur der drei Westmächte. Auch die Sowjetunion hat da gegen nichts einzuwenden. Das ändert sich nach Beginn der Berlin-Krise 1958. Unvergesslich wird für die Abgeordneten die 178. Sitzung am 7. April 1965: Die Sowjetunion lässt während eines Manövers MiG-Kampfjets im Tiefflug über Reichstagsgebäude und Kongresshalle hinwegdonnern. Viele weitere Aktivitäten des Bundestages, seiner Ausschüsse und Fraktionen führen zu offiziellen Protesten der DDR und der Sowjetführung. Schließlich wird die demonstrative Präsenz des Bundestages in Berlin förmlich im Vier-Mächte-Abkommen vom 3. September 1971 geregelt: Plenarsitzungen sind seitdem nicht mehr möglich. Einzelne Ausschüsse und auch einzelne Fraktionen können ohne Weiteres in Berlin tagen, die Fraktionen aber nicht gleichzeitig. Seit diesem Zeitpunkt finden diese Sitzungen überwiegend im Reichstagsgebäude statt. Es steht bereit, jederzeit auch für mehr zu dienen. Platz genug wäre auch für das Parlament eines wiedervereinigten Deutschlands. Aber je länger die Teilung dauert, desto mehr wird die Erwartung zu purer Hoffnung. Und viele verlieren ganz den Glauben an eine gesamtdeutsche Perspektive.

Berlin richtet sich ein. Auf der einen Seite die „Hauptstadt der DDR”, auf der anderen Seite die westliche Metropole mit dem Sonderstatus. Allerdings sind die Gefühle der Insellage, des Isoliertseins, nicht beschränkt auf den durch Mauer, Grenzkontrollstellen und kontrollierte Transitwege eingeschnürten Westteil der Stadt. Im Gegenteil: In den 80er-Jahren wird der Frust über die fehlende Reisefreiheit der DDR-Bürger vor allem bei Tausenden von jungen Leuten übermächtig — weil wenige Hundert Meter von ihnen entfernt die wirklich freie deutsche Jugend Open-Air-Stimmung genießt. Die Fußballspieler auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude gehören in dieser Zeit ebenso zum Lebensgefühl im Westen Berlins wie das sommerliche Grillen und die Livekonzerte prominenter Musiker. Wieder bekommt das Reichstagsgebäude symbolische Bedeutung, nun als Ort von Freiheit und Lebensfreude. Zum Beispiel 1987. Drei Tage lang gastieren Stars von Weltrang über Pfingsten vor dem Reichstagsgebäude. David Bowie, Phil Collins, Genesis — legendäre Namen, großartige Erlebnisse. Auch Berliner aus dem Ostteil wollen von jenseits der Mauer mithören. Korrespondenten schätzen die Menge auf rund 4.000 Menschen. Zu viel für die DDR-Sicherheitskräfte. Sie drängen die Rockfans von der Mauer weg, errichten Sperrgitter, setzen Hunde und Schlagstöcke ein, es gibt Dutzende von Festnahmen. Die Antwort der Menge: „Die Mauer muss weg!” oder „Wir wollen Freiheit!” Und das mehr als zwei Jahre vor den historischen Montagsdemonstrationen.

Ein Jahr später droht sich die Eskalation zu wiederholen. Nun treten unter anderem Michael Jackson, Pink Floyd, Nina Hagen und Udo Lindenberg vor dem Reichstagsgebäude auf. Die DDR-Staatsmacht hat vorgesorgt: In Weißensee gibt es ein Festival für Rockfans, das Staatsfernsehen spielt Rock. Und im Vorgriff sind viele Dutzend junge Leute festgenommen worden. Trotzdem versammeln sich auch dieses Mal wieder mehrere Tausend junge Leute auf der anderen Seite der Mauer, intensiv beobachtet von internationalen Medien, die ihrerseits Opfer von Drangsalierungen der DDR-Sicherheitskräfte werden. Und dennoch: Auch dieses Mal gibt es als Antwort den Ruf: „Die Mauer muss weg!”

Zurück zur Bestimmung

508 Tage später, das wird sich im Juni 1988 bei den Klängen von Pink Floyd vermutlich niemand erträumt haben, am 9. November 1989, geschieht es: Die Mauer ist offen. Eine unbeschreibliche Euphorie ergreift Besitz von der im Zeitraffer wieder zusammenwachsenden Stadt. Mit dem 9. November sind auch die Tage des SED-Regimes gezählt, schon am 18. März 1990 wird die erste und einzige freie Volkskammerwahl der DDR abgehalten. Nun bewegt sich die Geschichte in Riesenschritten auf das Reichstagsgebäude zu. Am 17. Juni 1990 kommen Bundestags- und Volkskammerabgeordnete zum gemeinsamen Gedenken der Opfer des Volksaufstandes von 1953 im Berliner Schauspielhaus zusammen. Bereits zwei Wochen später tritt die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft. Und in der Nacht zum 3. Oktober wird das Reichstagsgebäude erneut zum Symbol für Deutschland: Hunderttausende feiern davor die deutsche Einheit. Einen Tag später wird der Plenarsaal im Reichstagsgebäude zum Schauplatz dessen, für das man ihn zu bauen gehofft hatte: zur Stätte der ersten Sitzung des Parlaments des wiedervereinigten Deutschlands. 

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Erschienen am 24. September 2008

Weitere Informationen:

Chronik der Mauer
Ausführliche Information in Text und Bild:
www.chronik-der-mauer.de


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