Genscher: "Nato stolpert von einer Entscheidung in die
nächste"
- Interview mit "Das Parlament" -
Vorabmeldung zu einem Interview in der
nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 29. Dezember
2008)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen
Veröffentlichung –
Mit deutlichen Worten kritisiert der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Zustand der Nato: „Das Problem der Nato von heute ist das Fehlen eines politischen Konzepts vom Range und der Substanz des Harmel-Berichts von 1967.“ Das Bündnis stolpere derzeit von einer Entscheidung in die nächste, ohne dass dahinter ein politisches Konzept stehe. Ein zukunftsfähiges Gesamtkonzept benötige das Bündnis dringend.
Die Probleme „sind durch die Bush-Administration geschaffen worden“, erklärt Genscher und zwar „nicht nur durch den Irak-Krieg“. Die US-Regierung „träumte von einer Art Gegen-Nato, der Koalition der Willigen. Die einmalige Solidaritätsaktion der Nato, nach dem 11. September den Bündnisfall zu erklären, wurde geringschätzig zur Seite geschoben.“ Genscher setzt hohe Erwartungen in den künftigen amerikanischen Präsidenten Obama: „Von ihm darf nach seinen Ankündigungen erwartet werden, dass er in einem neuen Geist der Partnerschaft mit den Europäern spricht.
Vor dem Hintergrund des Georgien-Konflikts unterstreicht der ehemalige Außenminister die Bedeutung der Ostpolitik: „Die Zukunft Europas kann nicht ohne und erst recht nicht gegen Russland gestaltet werden.“ Der Abbruch des Nato-Russland-Dialogs und die Tagung des Nato-Rats im Nichtmitgliedsland Georgien seien halbstarke Akte gewesen. Notwendig sei jetzt vielmehr der intensive Dialog.
Das Interview im Wortlaut:
Welche Gedanken und Gefühle, Sorgen und Hoffnungen bewegten Sie, als Sie damals noch in Ihrer Heimat Halle in der DDR lebten und von der Gründung der Nato erfuhren?
Ich hielt die Gründung der Nato für richtig und notwendig. Es war damals klar erkennbar, dass die Sowjetunion ihren Einflussbereich in Europa nach Westen ausdehnen wollte. Meine Freunde und ich aber wollten ein vereintes Deutschland mit einer Demokratie westlicher Prägung.
Sahen Sie vor 60 Jahren wie viele in Ost und West darin die Gefahr der Vertiefung der Spaltung Deutschlands und Europas?
Die Gefahr einer fortschreitenden Spaltung sahen wir, aber nicht wegen der Gründung der Nato, sondern wegen des Versuches der Sowjetunion, ihren Herrschaftsbereich in Europa auszudehnen und demokratische Entwicklungen zunächst zu ersticken, dann brutal zu unterdrücken. Man denke nur an die Spaltung Berlins, aber auch an die Zwangsvereinigung von KPD und SPD und an den immer stärkeren Druck auf LDP und CDU. An den Hochschulen nahm die Zahl der Studenten zu, die wegen ihres Eintretens für die Freiheit von Lehre und Forschung verhaftet wurden.
Warum verlief die Geschichte dann doch anders, als in jener Zeit befürchtet wurde?
Die Geschichte verlief so, wie diejenigen erhofft und erwartet hatten, die Vertrauen in die Kraft und in die Attraktivität von Freiheit und Demokratie setzten. Natürlich hatten wir die Hoffnung, alles würde viel schneller gehen. Die Integration der Bundesrepublik in die westlichen Gemeinschaften war die Voraussetzung für die deutsche Vereinigung und für einen klaren politischen und werteorientierten Standort des neuen demokratischen Staates.
Hat Ihnen die Festlegung der West-Verträge der Adenauer-Zeit auf die deutsche Wiedervereinigung in den Jahren 1989/90 als Außenminister geholfen, Widerstände im Westen gegen den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zu überwinden?
Die Westverträge hatten das Gewicht der Bundesrepublik Deutschland erst zur Geltung gebracht. Nicht nur im Westen, sondern auch in Moskau. Die Moskauer Führung betrachtete die oft so scharf kritisierte Bundesrepublik Deutschland als entscheidenden Faktor in Europa. Das war eine zutreffende Analyse, denn Nato minus Westdeutschland, EG minus Westdeutschland, das wäre das Ende der Integration des demokratischen Europas gewesen. Wir sind der sich daraus ergebenden Verantwortung stets bewusst gewesen. Bei der Vereinigung hat sich das daraus entstandene Vertrauen bezahlt gemacht.
Sie haben vor dem Wechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl 1982 schon einmal von der „Wende“ gesprochen. War das wirklich eine Wende oder war es in der Außenpolitik nicht eher durch Sie Kontinuität?
Der Begriff „Wende“ wird von mir in meinem Brief an die Partei vom 20. August 1981 verwendet. Ich verlangte für die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik eine Wende im Denken und Handeln. Der Brief erregte großes öffentliches Aufsehen, er wurde als Wendebrief bezeichnet. Die FDP wolle diese Wende mit der SPD vollziehen. Ich wisse mich in dieser Frage in der Sache mit vielen Sozialdemokraten einig. Ich dachte dabei zuallererst an den Bundeskanzler Helmut Schmidt selbst. 1982 ging es um die Kontinuität der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und in der Wirtschafts- und Finanzpolitik um eine Wende. Wer die Rede von Helmut Schmidt vom 30. Juni 1982 vor der SPD-Fraktion nachliest, wird feststellen, zwischen dieser Rede und dem SPD-Parteitag und seinen Beschlüssen vom Frühjahr 1982, lagen Welten. Der Regierungswechsel 1982 war notwendig, um die richtige Außen- und Sicherheitspolitik fortzusetzen und die Fehlentwicklungen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik zu korrigieren.
War es nicht geradezu eine List der Geschichte, dass Sie mit Helmut Kohl den von Helmut Schmidt gewollten Nato-Doppelbeschluss durchsetzten, Kohl also auf diesem Feld die Politik Schmidts vollendete?
Der Nato-Doppelbeschluss bedeutete ein klares Signal an die Führung in Moskau. Bis hierher, aber nicht weiter, das heißt wir lassen nicht zu, dass die USA aus Europa hinausgerüstet werden, aber wir wollen durch Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen in Ost und West, durch ein großes historisches Abrüstungsabkommen eine Umkehr, weg von dem Rüstungswettlauf, erreichen. Der Nato-Doppelbeschluss war nicht mehr mehrheitsfähig in der SPD, er war aber auch umstritten in der CDU/CSU. Franz Josef Strauß zum Beispiel, sah in dem Verhandlungsangebot ein Zeichen der Schwäche des Westens mit der Gefahr, die Abschreckungskraft des Westens zu mindern. Widerstände gab es in der Union gegen das Abrüstungsabkommen für atomare Mittelstreckenwaffen bis in die letzten Stunden vor der deutschen Zustimmung. Diese Kräfte wollten unbedingt an den Pershing-1a- Atomraketen auf deutschem Boden festhalten. Damals war die Regierung ernsthaft in ihrem Bestand gefährdet, denn ich hätte auf keinen Fall zugelassen, dass daran das Abrüstungsabkommen scheitert.
Was hat dieser auch bei Ihnen umstrittene Beschluss mit der Nachrüstung des Westens und gleichzeitiger Entspannungspolitik des „Genscherismus“ für die Einheit Deutschlands und Europas bewirkt?
Gorbatschow sieht in dem Nato-Doppelbeschluss und der Nachrüstung den Wendepunkt für die sowjetische Politik. Das ist durchaus plausibel, denn der Nachrüstungsbeschluss und die Nachrüstung schufen Fakten. Das Gerede dagegen von den Weltraumwaffen schuf unnötige Spannungen, aber blieb bis heute ein Wunschtraum seiner Urheber.
Trotz der nicht zuletzt von Ihnen in Bonn betriebenen großen Außenpolitik sprachen Ihr Nachfolger Klaus Kinkel und der damals künftige Bundespräsident Roman Herzog davon, die Bundesrepublik müsse nach der Einheit „herunter von der Zuschauertribüne“ und das „Trittbrettfahren“ beenden…..
Von Klaus Kinkel habe ich das nicht gehört. Was den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog angeht, so habe ich seine Bemerkungen, in einer gegenüber dem Staatsoberhaut angemessenen Form, zurückgewiesen. Deutschland vor der Vereinigung hat unter den Europäern die Hauptlast der westlichen Verteidigung getragen, mit unserer Bundeswehr, mit unserem Territorium und vor allen Dingen mit unseren Bürgerinnen und Bürgern. Wir haben keinen Nachholbedarf an Beweisen unserer Bündnisfähigkeit und Bündnistreue.
Ist ein Ausdruck der veränderten Nato, die in der Meinung ihrer Kritiker von einer Kriegsverhinderungs-Organisation zu einer der Kriegsführung geworden ist, das Wort des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck, Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt? Ist das Bündnis heute mit seinen weltweiten Einsätzen auf dem richtigen Weg und wird zu wenig an die Landesverteidigung gedacht?
Das Problem der Nato von heute ist das Fehlen eines politischen Konzepts vom Range und der Substanz des Harmel-Berichts von 1967. Die Nato stolpert derzeit von einer Entscheidung in die nächste, ohne dass dahinter ein politisches Konzept steht.
Sie haben mit Gorbatschow den Nato-Russland-Dialog in Gang gebracht und das Verhältnis zwischen dem Bündnis und Moskau entspannt. Wie soll sich Deutschland heute zu Russland stellen, vor allem vor dem Hintergrund des Georgien-Konflikts?
Die Zukunft Europas kann nicht ohne und erst recht nicht gegen Russland gestaltet werden. Wir sind mit Russland Mitglied der OSZE, die auch die USA und Kanada einschließt. Die Vorschläge des russischen Präsidenten Medwedew verdienen eine ernsthafte Erörterung. Europa und Russland können sich gegenseitig viel geben. Die Behandlung des Georgienkonflikts im Westen ist widersprüchlich. Über Georgien wird undifferenziert gesprochen. Die einen haben schon ein festes Urteil: Die Russen sind schuld. Auf der anderen Seite ist eine Untersuchungskommission eingesetzt, die herausfinden soll, was wirklich geschehen ist. Bis dahin sollte man sich sein Urteil aufheben. Der Abbruch des Nato-Russland-Dialogs und die Tagung des Nato-Rats im Nichtmitgliedsland Georgien waren halbstarke Akte. Notwendig ist jetzt der intensive Dialog von EU und Nato mit Russland.
Die Vereinigten Staaten klagen immer wieder darüber, dass sie die Hauptlast in der Nato tragen müssen und verlangen, dass der europäische Pfeiler stärker wird. Werden die Europäer da mitmachen, vor allem jetzt, da die USA einen neuen Präsidenten haben?
Wenn der neue Präsident im Amt ist, sollte es möglich sein, sich über ein gemeinsames Konzept unter Gleichberechtigten und Ebenbürtigen zu verständigen. Die Probleme der Nato von heute sind durch die Bush-Administration geschaffen worden. Sie träumte von einer Art Gegen-Nato, der Koalition der Willigen. Die einmalige Solidaritätsaktion der Nato, nach dem 11. September den Bündnisfall zu erklären, wurde geringschätzig zur Seite geschoben.
Hat die Ära Bush mit dem Irak-Krieg und dem Nato-Einsatz in Afghanistan das Bündnis geschwächt und was erwarten Sie in diesem Zusammenhang vom neuen Präsidenten Obama?
Ohne Zweifel hat die Ära Bush die Nato geschwächt, nicht nur durch den Irak-Krieg. Von dem neuen Präsidenten Obama darf nach seinen Ankündigungen erwartet werden, dass er in einem neuen Geist der Partnerschaft mit den Europäern spricht.
Es gibt inzwischen ein Konkurrenzverhältnis zwischen der EU und der Nato. Brüssel will aktiv Sicherheitspolitik gestalten und Militäreinsätze durchführen. Bedeutet dies ein Problem für die transatlantische Partnerschaft?
Unter Verantwortlichen geht es nicht um Konkurrenz, sondern um Kooperation. Das kann die transatlantische Partnerschaft nur stärken.
Aber auch die Nato wird immer größer und bietet jetzt sogar Albanien Beitrittsverhandlungen an. Wird das Bündnis überdehnt?
Überdehnung einerseits und Bündnisfähigkeit andererseits sind zwei verschiedene Dinge. Albanien aufzunehmen ist durchaus sinnvoll.
Was ist Ihr Geburtstagswunsch für den 60. Jahrestag der Nato?
Ein zukunftsfähiges Gesamtkonzept.
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