Neujahrsansprache des Bundestagspräsidenten Dr. Norbert Lammert im Deutschlandfunk
(Sendetermin 1. Januar, 19.10 Uhr)
Der Jahreswechsel ist eine willkommene Gelegenheit, Erfahrungen der vergangenen Monate zu verbinden mit guten Vorsätzen für die Zukunft.
2005 war im Ganzen betrachtet ein gutes Jahr für die Demokratie in Deutschland: Dieses Jahr hat gezeigt, dass Demokratie für friedlichen Wechsel steht, für Kontinuität und Veränderung. Deutlich wurde, wer der eigentliche Souverän in unserem Lande ist: Es sind nicht die Parteien, sondern die Bürgerinnen und Bürger; sie haben eine andere Wahlentscheidung getroffen, als viele erhofft und manche gefürchtet haben. Es war eine Entscheidung jenseits aller Prognosen und erklärten Absichten.
Der nüchterne, unaufgeregte Start der neuen Legislaturperiode zeigt, dass sich die politischen Akteure in Regierung und Opposition ihrer Verantwortung für unser Land sehr wohl bewusst sind. Es ist beeindruckend, dass die oft beschworene Solidarität der Demokraten im Ernstfall tatsächlich aktiviert werden kann. Das demokratische System ist intakt und funktioniert, trotz mancher Ärgernisse und Besorgnisse.
Die Herausforderungen, die wir im neuen Jahr und in der gerade begonnenen Legislaturperiode zu meistern haben, sind beachtlich: Dies gilt nicht nur für die Fußball-Weltmeisterschaft, die wir ausrichten dürfen und bei der die ganze Welt auf Deutschland schaut. Wir wünschen der eigenen Mannschaft Glück und Erfolg und wollen für alle Teilnehmer und Gäste gute Gastgeber sein.
Aber unser Ehrgeiz ist auch auf anderen Feldern gefordert: Wir brauchen mehr wirtschaftliche Dynamik, die neue Arbeitsplätze schafft, wir müssen die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest machen und gleichzeitig die Staatsverschuldung stoppen und zurückführen, wir müssen Bildung, Wissenschaft, Forschung stärken und Familien und Kinder besser fördern.
Weder Gier noch Geiz dürfen der Maßstab sein, nach dem wir das Gemeinwohl definieren. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und im Umfeld weltweiter Veränderungen müssen wir auch künftig solidarischen Ausgleich ermöglichen.
Trotz der Größe der Aufgaben haben wir doch auch Anlass zu Zuversicht und Optimismus. Die Herausforderungen sind zu meistern, wenn sich alle daran beteiligen, wie das im letzten Jahr einmal mehr in der bewundernswerten Spendenbereitschaft bei Flut- und Naturkatastrophen zum Ausdruck kam. Auch der Einsatz von haupt- und ehrenamtlichen Helfern und der Bundeswehr in Krisenregionen verdient Respekt und hat zum Ansehen Deutschlands weltweit beigetragen. Wir können unser Land voranbringen, wenn wir die notwendigen Veränderungsprozesse als Aufgabe aller Demokraten, aller gesellschaftlichen Kräfte begreifen.
Nicht alles, was veränderungswürdig ist, kann und darf an die Politik delegiert werden. Einstellungen und Verhalten lassen sich nicht auf Weisung "von oben" ändern. Dies ist nur als individuelle Anstrengung möglich: Veränderungen beginnen im Kopf.
Wir sind Deutschland. Jeder an seinem Platz. Jeder nach seinen Möglichkeiten. Und wir können gemeinsam mehr aus unseren Möglichkeiten machen. Was die Zukunft bringt, liegt in unserer Hand. In diesem Sinne wünsche ich allen Hörerinnen und Hörern ein gesundes, friedliches und erfolgreiches Jahr 2006.