Fortschrittsbericht zu Türkei-Beitritt vorgestellt
Veröffentlichung aus „Das Parlament“
Die EU-Kommission hat in der vergangenen Woche keine Empfehlung abgegeben, ob die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wegen der Zypernfrage ausgesetzt werden sollen. Stattdessen empfahl Erweiterungskommissar Olli Rehn, einen Kompromissvorschlag der finnischen Ratspräsidentschaft zu akzeptieren.
Zu den Reaktionen auf den Fortschrittsbericht der EU-Kommission schreibt die Zeitung „Das Parlament“ in ihrer aktuellen Ausgabe:
Orientexpress statt Eurostar
Von Daniela Weingärtner
Kaum ist der Beitritt Bulgariens und Rumäniens zur Europäischen Union beschlossene Sache, geht das Erweiterungsritual in die nächste Runde.Tonnenweise Papier gab die EU-Kommission am 8. November an die ungeduldig wartenden Journalisten aus. Allein die Mitteilung zur Erweiterungsstrategie umfasst 68 Seiten, dazu kamen acht dicke Berichte darüber, welche Fortschritte die Kandidatenländer Kroatien, Mazedonien und Türkei sowie die übrigen Balkanstaaten auf dem Weg in die Europäische Union gemacht haben. Doch die türkischen und zypriotischen Kamerateams, die sich schon am Morgen vor dem Kommissionsgebäude postiert hatten, interessierten sich wenig für die akribisch aufgelisteten Leistungen und Defizite in den Bereichen Demokratie, Minderheitenrechte und Wirtschaftsentwicklung.
35 Politikbereiche müssen geprüft werden
Sie wollten wissen, ob die EU-Kommission den Mitgliedstaaten empfehlen wird, die Verhandlungen mit der Türkei auf Eis zu legen. Ende Dezember läuft die Frist aus, in der Ankara seine Verpflichtung einlösen muss, Handelsbeziehungen mit der griechischen Republik Zypern aufzunehmen. Geschieht das nicht, steht der EU ein Instrumentarium an möglichen Reaktionen zur Verfügung. 35 Politikbereiche müssen bis zu einem möglichen Beitritt geprüft und mit den europäischen Mindestanforderungen abgeglichen werden. Diese Prozedur wurde bislang nur für einen Bereich erfolgreich durchgeführt – am 12. Juni eröffneten die Verhandlungspartner das „Kapitel“ Forschung und Wissenschaft und schlossen es auch am gleichen Tag wieder.
Einstimmiges Votum ist notwendig
Weitere 34 Mal müssen die 25 EU-Vertreter in den nächsten Jahren einstimmig dafür votieren, ein weiteres Kapitel zu öffnen und nach erfolgreichen Verhandlungen wieder zu schließen. Hebt nur ein einziges Land – zum Beispiel die griechische Republik Zypern – den Finger nicht, liegen die Verhandlungen ohne große Erklärungen und öffentliche Drohungen auf Eis. Ein wesentlich größerer diplomatischer Knalleffekt würde erzeugt, wenn die Mitgliedstaaten auf den Verhandlungsrahmen zurückgreifen würden, den sie sich im Oktober 2005 gaben.
Darin heißt es: „Im Fall eines schwerwiegenden und fortdauernden Bruchs der Prinzipien der Freiheit, der Demokratie, des Respekts für die Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten und der Rechtsstaatlichkeit, auf die sich die Union gründet, wird die Kommission auf eigene Initiative oder auf Forderung eines Drittels der Mitgliedstaaten das Aussetzen der Verhandlungen empfehlen.“ Für diesen Beschluss genügt – ganz im Gegensatz zu allen anderen mit einer Erweiterung zusammenhängenden Entscheidungen, die qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten. Zwar versichern Diplomaten, dass kein einziges Mitgliedsland bislang laut darüber nachgedacht hat, diesen Paragraphen zum Leben zu erwecken. Doch das könnte sich ändern, wenn sich die Türkei im Wahlkampffieber für die nächsten November geplanten Parlamentswahlen immer weiter von den Grundsätzen entfernt, auf die sie sich als Vorbedingung für die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union verpflichtet hatte.
Keine klare Empfehlung
Wer allerdings eine klare Empfehlung der Kommission zum Fahrplan der kommenden Monate erwartet hatte, wurde enttäuscht. Erweiterungskommissar Olli Rehn hatte keine schlagzeilenverdächtigen Entscheidungen des Kommissarskollegiums bekannt zu geben. Stattdessen beschränkte er sich darauf, „Empfehlungen“ der Kommission an den EU-Gipfel Mitte Dezember für den Fall anzukündigen, dass die Türkei bis dahin ihre Handelsgrenzen für Zypern nicht geöffnet hat. Der finnische Kommissar machte klar, dass er weiterhin Hoffnungen in die diplomatischen Bemühungen der finnischen Ratspräsidentschaft setze, noch bis Ende des Jahres einen Kompromiss im Zypern-Streit zu finden. Finnland hatte der Türkei angeboten, dass gleichzeitig mit der Öffnung türkischer Häfen und Flughäfen für zypriotische Waren aus dem griechischen Teil der Insel auch ein Hafen im türkisch-zypriotischen Norden für EU-Waren geöffnet werden sollte.
„Warum sollten wir uns wie ein Elefant im Porzellanladen verhalten, während die finnische Präsidentschaft noch versucht, einen Ausweg zu finden?“, fragte Olli Rehn. Wenn die Türkei ihre Verpflichten bis Mitte Dezember nicht erfülle, werde die Kommission bekannt geben, welche Konsequenzen sie dem Rat empfehlen wolle. Bis dahin aber rate er allen Mitgliedstaaten, den finnischen Kompromissvorschlag zu unterstützen. Er sei auf Jahre hinaus die letzte Chance, in der Zypernfrage zu einer gütlichen Einigung zu kommen.
Ombudsmann eingeführt
Rehn warnte davor, dass über der Zyperndebatte die Fortschritte in den Hintergrund treten könnten, die die Türkei seit dem letzten Bericht vor einem Jahr gemacht habe. So werde ein Ombudsmann eingeführt, der die Rechte der Bürger gegenüber staatlichen Behörden stärken solle. Das Parlament befasse sich mit einem neuen Gesetz über religiöse Stiftungen. Die Tatsache, dass Staatspräsident Tayyip Erdogan zivile Organisationen aufgefordert habe, Verbesserungen zum Strafgesetzbuch vorzuschlagen, sei ein gutes Zeichen. Der viel zitierte Paragraph 301 allerdings, der Beleidigungen des Türkentums unter Strafe stellt, müsse gestrichen werden.
Der Erweiterungsprozess, sagte Rehn am Ende, sei kein Hochgeschwindigkeitszug wie der Eurostar. Er erinnere vielmehr an den gemütlichen Orientexpress, in dem die Sicherheit der Passagiere und der gute Service an erster Stelle stünden. In der Türkei wird diese Botschaft auf wenig Begeisterung stoßen. Viele dort setzen eher auf Tempo denn auf Bequemlichkeit bei der Fahrt in die Europäische Union.
Das Parlament, Ausgabe 46 vom 13. November 2006