"Dieser stofflose Begriff..."
Gedenkstunde im Bundestag: Abgeordnete und Jugendliche gedenken gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismus. Hauptredner ist der Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertész, der als Holocaust-Überlebender von einer "ganz besonders grausamen Form der Gnade" spricht - und vom Guten im Menschen, das gänzlich unerklärlich ist.
Im Parlamentsviertel, besonders im Reichstagsgebäude, ist an diesem wolkigen 29. Januar 2007 einiges los. Um 14 Uhr findet hier die zentrale Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus statt. Der eigentliche Gedenktag, der 27. Januar, war am Samstag national und international begangen worden. Auf den Tribünen des Plenarsaals sitzen heute viele Besucher in Nationaltrachten, Uniformen und Kleidung, die auf ein religiöses Amt hinweist. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jugendbegegnung 2007 haben bei den Abgeordneten im Plenum Platz genommen.
Für sie ist die Gedenkstunde der Höhepunkt der sechstägigen Begegnung. Die 80 Jugendlichen aus Deutschland, Polen und Frankreich hatten sich im Rahmen der Jugendbegegnung, die der Bundestag jährlich anlässlich des Gedenktages veranstaltet, in Berlin und den KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen mit dem Thema "Zuschauer im Nationalsozialismus" beschäftigt. Unter den Anwesenden der heutigen Gedenkfeier sind auch der Bundespräsident Köhler und seine Frau, die Bundeskanzlerin, der Bundesratspräsident und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts.
Besondere Stimmung
Auch der Saal selbst wirkt ein wenig anders als sonst: Blumengestecke schmücken das Stenographenpult, vor der Regierungsbank warten eine Trommel und mehrere Saiteninstrumente auf ihren Einsatz. Eröffnet wird die Gedenkstunde von den vier Musikern des ungarischen Ensemble Muzsikás. Die auch über die Grenzen Ungarns hinaus berühmte Gruppe vermischt traditionelle ungarische Volkslieder mit denen der Roma und Einflüssen aus der jüdischen Musik.
Nach dem Stück, das den Titel "Totengeleit" trägt, begrüßt Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert alle Anwesenden. Der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus ist, so Lammert in seiner Rede, in der Abfolge der jährlichen Gedenktage nicht irgendeiner, quasi "noch einer", sondern gewissermaßen der erste. Der Gedenktag erinnere an die vielleicht größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte, die in Europa stattgefunden hat und die von Deutschland verursacht wurde. Das Erinnern finde nicht nur am Gedenktag statt – die Erfahrung des Holocaust gehöre zu den "ungeschriebenen Gründungsdokumenten" unserer Demokratie.
Die Erinnerung ist gemeinsame Aufgabe
Lammert zitiert den ehemaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer: "Man muss das Gestern kennen, wenn man das Morgen wirklich gut und dauerhaft gestalten will". Deutschland habe die Verantwortung, sich allen Formen von Extremismus, Rassismus und Antisemitismus entschieden entgegenzustellen. Bundestagspräsident Lammert erinnert in diesem Zusammenhang an die politisch nicht hinnehmbaren Äußerungen des iranischen Präsidenten, der das Existenzrecht Israels bestreite und den Holocaust leugne sowie an die durch den Iran organisierte internationale Konferenz zu Fragen des Holocaust, gegen die der Bundestag durch seinen Präsidenten in einem Brief protestiert hatte. Dafür und für seinen Hinweis auf die besondere Verantwortung und Verpflichtung Deutschlands dem Staat Israel gegenüber erntet Lammert mehrfach Beifall aus dem Plenum und von den Tribünen. "Geschichte vergeht nicht", so Lammert, "deshalb ist die Bewahrung der Erinnerung, das nationale Gedächtnis, eine politische und gemeinsame Aufgabe".
Für die Gedenkstunde - so Lammert weiter - werde es von Jahr zu Jahr schwieriger, Zeitzeugen zu finden. Das Gedenken gelte so nicht nur den ermordeten Juden Europas, den Sinti und Roma, den Homosexuellen, den Euthanasieopfern und all jenen, die wegen ihrer religiösen oder politischen Überzeugungen ermordet wurden, sondern auch den Überlebenden der Vernichtungslager, die vom Trauma des Überlebens gezeichnet sind. Der Hauptredner der diesjährigen Gedenkstunde, der gebürtige Ungar Imre Kertész, hat als Jugendlicher die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald überlebt. Eines seiner zentralen Themen später als Schriftsteller ist das Schicksal des Überlebenden.
"Was hast du denn gedacht?"
Kertész, der 2002 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, liest aus seinem Werk "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind". Das Kaddisch ist ein jüdisches Trauergebet, der Text ein Monolog an ein nicht geborenes Kind des Erzählers. In der von Kertész gelesenen Passage geht es um die "besonders grausame Form der Gnade", wie der Autor das Schicksal der Überlebenden genannt hat. Es geht um das Grübeln über Erklärungen für das Grauen und den Umgang mit dem Erlebten. Erklärungen für das Böse gibt es immer, so Kertész in seinem Text: Die Individuen, die beteiligt sind, seien rational, mit echten, wenn auch unterschiedlichen Begründungen für ihre Grausamkeit. Irrational sei nur das Gute. Der Text untermalt das mit einer Anekdote aus Auschwitz, in dem ein Mitgefangener fälschlicherweise die Essensration des Ich-Erzählers erhält. Statt die wertvolle Nahrung zu behalten und die Chance des eigenen Überlebens zu verdoppeln, sucht der Mitgefangene den Erzähler auf und gibt das ihm zustehende Essen heraus, mit den Worten: "Was hast du denn gedacht?" Solche Taten sind Wunder, sie sind irrational und bleiben ohne Erklärung.
Nur das Gute ist unerklärbar
Im Plenarsaal des Bundestages, in dem der 77-Jährige seinen autobiografischen Text auf Deutsch vorträgt, scheint genau in diesem Moment die Sonne durch eine Lücke in der Wolkendecke. Wie durch eine gut geplante Regieanweisung schickt die winterliche Sonne ihre Strahlen tatsächlich genau in dem Augenblick ins Plenum, als Kertész von diesem "stofflosen Begriff" liest, dem Guten im Menschen, das für ihn so unfassbar und unerklärbar ist. Gelenkt durch diese Idee in uns allen, die keinen Namen hat und weder Seele, noch Körper ist, habe der Mitgefangene des Erzählers selbstlos seine Chance aufs Überleben halbiert und die des Erzählers verdoppelt, So Kertész. Ein Wunder. "An Wunder darf man sich nicht gewöhnen", hatte Lammert zuvor in seiner Rede gesagt, doch "wir haben Anlass zur Dankbarkeit, dass es solche Wunder gibt."
Die Sonne scheint auch noch, als das Ensemble Muzsikás ein weiteres Mal für den feierlichen musikalischen Rahmen sorgt. Im Stück "Abschied vom Toten" spielt zunächst nur die Geige eine traurige Melodie, später kommt ein Ütögardon, ein traditionelles vierseitiges Instrument einer ungarischen Minderheit in Rumänien hinzu. Seine vier Saiten werden mit einem Schlagstock geschlagen, zugleich wird gezupft. Der so entstehende Klang vereint Trauer und Kraft für die traurigsten und härtesten Momente des Lebens. Die Wände des Plenarsaals hallen wider im Rhythmus der Musik – außergewöhnlich hier in diesem Raum, an dem sonst politische Diskussionen stattfinden. Geige und Ütögardon – Melodie und Rhythmus – Hoffnung und Stärke: Gedenken 2007.
von mitmischen.de - Das Jugendforum des Deutschen Bundestages