Große Tage des Parlaments
16. Oktober 1998: Debatte um Kampfeinsatz im Kosovo
Als die NATO am Abend des
24. März 1999 die ersten Luftangriffe gegen serbische
Stellungen im Kosovo flog, bedeutete das für Deutschland eine
historische Zäsur: Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte
waren auch Bundeswehrsoldaten an Kampfeinsätzen im Ausland
beteiligt.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Schon Monate vorher war eine Debatte aufgeflammt, die seit
Jahren immer wieder Öffentlichkeit, Politik und Justiz in
Deutschland beschäftigt hatte, wenn es um mehr als nur
humanitäre Einsätze der Bundeswehr ging. Die Frage, ob
deutsche Soldaten im Rahmen des NATO-Bündnisses auch an
Kampfhandlungen teilnehmen sollen, wurde stets heftig diskutiert.
Denn sie berührte neben den verfassungsrechtlichen Bedenken
auch einen außenpolitischen Grundkonsens, der nach der
Erfahrung des Zweiten Weltkriegs jahrzehntelang über alle
politischen Strömungen hinweg Geltung hatte: „Von
deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen." Mehrere Male
musste sich das Bundesverfassungsgericht mit Klagen gegen
Bundeswehreinsätze beschäftigen. Am 12. Juli 1994
entschieden die Richter, dass diese im Rahmen des
NATO-Bündnisses verfassungskonform seien – sofern ihnen
vorher der Bundestag zugestimmt habe.
Mehrheit der Abgeordneten für Luftangriffe
Im Fall des Kosovo-Einsatzes verabschiedete die Mehrheit der
Abgeordneten am 16. Oktober 1998 einen Antrag, den die scheidende
schwarz-gelbe Bundesregierung unter Führung von Helmut Kohl
(CDU/CSU) zusammen mit dem designierten Bundeskanzler Gerhard
Schröder (SPD) und künftigen Außenminister Joseph
Fischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ausgearbeitet hatte. Der
Antrag sollte die rechtliche Grundlage schaffen für
Beteiligung der Bundeswehr an NATO-geführten Luftoperationen.
Diese hatten das Ziel, die Kriegsparteien im Kosovo - die
jugoslawische Regierung unter Präsident Slobodan
Milošević und die Führung der albanischen
UÇK - zur Einstellung des Kampfes zu zwingen. Dies hatten
die Vereinten Nationen (UN) zuletzt im September 1998 in der
Resolution 1199 gefordert, jedoch ohne Wirkung. 500 der 580
Parlamentarier votierten schließlich für einen
Bundeswehreinsatz im Kosovo, 62 stimmten dagegen. 18 Abgeordnete
enthielten sich.
Schwere Entscheidung im Plenum
Die rund zweistündige Debatte, die der Abstimmung vorausging, offenbarte jedoch die zahlreichen Bedenken und Gewissenkonflikte, die viele der Politiker empfanden bei der Entscheidung, deutsche Soldaten im Ernstfall in den Krieg zu entsenden.
So sagte der scheidende Bundesaußenminister Klaus Kinkel
(FDP), der "Einsatz von Gewalt“ komme nur als "ultima
ratio“ in Frage. Die jugoslawische Regierung sei aber trotz
"aller politischen und diplomatischen Bemühungen
uneinsichtig“: "Milošević darf nicht erlaubt
werden, sein zynisches Katz-und-Maus-Spiel, das er jahrelang auch
in Bosnien gespielt hat, fortzusetzen“, forderte Kinkel und
erinnerte daran, dass auch Deutschland sich nicht selbst vom
"Tyrannen“ befreien konnte, "sondern durch Gewalt
anderer“ befreit wurde.
Menschenrechtsverletzungen beenden
Auch Gerhard Schröder (SPD) bekräftigte, dass die
internationale Gemeinschaft eine "solche systematische Verletzung
von Menschenrechten nicht hinnehmen dürfe“. Zwar sei ihm
als Rechtsgrundlage "ein mit einer klaren Ermächtigung
versehenes UNO-Mandat lieber gewesen“, gab der designierte
Bundeskanzler zu. Doch auch die NATO beziehe sich in ihrer
Entscheidung "ausdrücklich auf die Resolution der UN und auf
die Notwendigkeit, eine humanitäre Katastrophe zu
verhindern“, so Schröder.
Verpflichtung gegenüber der NATO
Der scheidende Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU/CSU) betonte die Verpflichtung Deutschlands gegenüber den NATO-Partnern: Alle anderen Regierungen und Parlamente hätten sich "unzweideutig hinter die geplanten Luftoperationen gestellt“ und erwarteten nun ein "klares Votum“ des Bundestages. Und auch für die Soldaten sei die "schwierige Situation“ leichter zu tragen, wenn sie spürten, dass die "Vertreter des deutschen Volkes“ hinter ihnen stünden.
Joseph Fischer, Fraktionsvorsitzender von BÜNDNIS 90/ DIE
GRÜNEN mahnte, dass von Milošević eine dauerhafte
Kriegsgefahr in Europa ausgehe. Die "auf aggressivem Nationalismus
beruhende Politik Belgrads“ müsse deshalb in die
Schranken gewiesen werden“, erklärte der künftige
Bundesaußenminister. "Wenn wir die Lehre aus unserer
Geschichte und aus der blutigen ersten Hälfte des 20.
Jahrhundert gelernt haben, dann darf es in Europa keine
Kriegstreiberei mehr geben.“
Nein zu militärischen Mitteln
Gregor Gysi (PDS) kritisierte als einziger Redner der Debatte
die geplante Entsendung von Soldaten heftig. Der Einsatz von
militärischen Mitteln sei "aus politischen, moralischen und
historischen Gründen“ abzulehnen, so der Vorsitzende der
PDS-Gruppe im Bundestag. Ein NATO-Einsatz verletze darüber
hinaus das allgemeine Völkerrecht und die spezielle Resolution
der Vereinten Nationen zum Kosovo. Einen "Vorratsbeschluss“
über einen möglichen Krieg zu fassen, nannte Gysi
"indiskutabel“ und "falsch“.
1999: Die Bundeswehr im Kosovo
Nach der Zustimmung im Bundestag flog die NATO vom 24. März bis zum 10. Juni 1999 unter Beteiligung deutscher Tornados Luftangriffe auf militärische Ziele im Gebiet der früheren Republik Jugoslawien. Am 11. Juni 1999 entschied der Bundestag, bis zu 8.500 Bundeswehrsoldaten im Rahmen der NATO-geführten multinationalen Friedenstruppe für das Kosovo (KFOR) zu entsenden. 2000 stimmte das Parlament der Fortsetzung der deutschen KFOR-Beteiligung um ein Jahr zu. Dieser Fortsetzungsbeschluss wurde in der Folge jährlich um ein weiteres Jahr erneuert; das letzte Mal geschah das am 21. Juni 2007. Nach acht Jahren Protektorat durch die Vereinten Nationen erklärte sich das Kosovo schließlich am 17. Februar 2008 für unabhängig.