Wege in die Politik
Damenschneiderin und Förster, Dolmetscherin und Winzer - die Abgeordneten im Deutschen Bundestag kommen aus ganz verschiedenen Berufen. Die am häufigsten vertretene Berufsgruppe bilden mit 23 Prozent die Juristen. Der Rest der insgesamt 612 Abgeordneten hat in 121 anderen Berufen und Berufungen Erfahrungen gesammelt. In unserer Serie "Wege in die Politik" stellen wir heute den Pfarrer Michael Stübgen (CDU/CSU) vor.
Michael Stübgen lebte zu DDR-Zeiten faktisch in
Sippenhaft. Seine Mutter war Katechetin in der evangelischen Kirche
und wurde vom DDR-Regime als
Oppositionelle betrachtet. Stübgens Bruder saß wegen
"Republikflucht" im Gefängnis. Stübgen, Jahrgang 1959,
wuchs im brandenburgischen Lauchhammer auf, einer Stadt im
Landkreis Oberspreewald-Lausitz. Von 1966 bis 1976 besuchte er die
Polytechnische Oberschule. Das Abitur wurde ihm als
Angehörigem oppositionell-kirchlicher Kreise
verwehrt.
Ideologiefreies Studium
Also absolvierte er eine Ausbildung zum Baufacharbeiter und
holte das Abitur an einer kirchlichen Hochschule in Naumburg nach.
Dieser Abschluss wurde zwar von Westdeutschland anerkannt, nicht
aber von den staatlichen DDR-Hochschulen. Sein
Studienfach stand somit fest: die Theologie. Sie ermöglichte
das einzige ideologiefreie geisteswissenschaftliche Studium zu
DDR-Zeiten.
"Ich habe oft darüber nachgedacht, was ich studiert
hätte, wenn ich die Wahl gehabt hätte", sagt Michael
Stübgen heute. Naturwissenschaften hätten ihn zum
Beispiel auch interessiert.
Volle Kirchenränge
Das Theologiestudium in Naumburg und Berlin machte ihm
Spaß, er befasste sich viel mit der Geschichte. Beim
anschließenden Vikariat hielt er Gottesdienste, unterrichtete
Kinder in der Christenlehre, leistete Gemeindearbeit. Als
ordinierter Pfarrer bekam Stübgen die Verantwortung für
drei Dörfer im Süden Brandenburgs. Zwar versuchte das
DDR-Regime,
den Einfluss der Kirche zurückzudrängen und vor allem
junge Menschen den kirchlichen Institutionen zu entziehen. Doch die
Gottesdienste von Pfarrer Stübgen waren immer voll. "Dort
hatte die Kirche noch Volkscharakter."
Widerstand auf der Kanzel
Stübgen hielt Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen -
manchmal alles an einem Tag. Und er nahm am politischen Widerstand
teil, fuhr 1989 zu Montagsdemonstrationen nach Dresden. Als sich
Egon Krenz zur blutigen Niederschlagung des Studentenaufstandes in
Peking mit den Worten äußerte: "etwas sei getan worden,
um die Ordnung wiederherzustellen" und auch in Deutschland die Lage
eskalierte "bin ich auf der Kanzel politisch geworden", berichtet
Stübgen. Beim Erntedankfest, die Kirche war bis in die
obersten Ränge gefüllt, predigte er gegen die
Machenschaften des Regimes - und für ein vereinigtes
Deutschland.
De-facto-Bürgermeister
Seine Gemeinde, ziemlich schockiert, rechnete fest damit, dass
der Pfarrer bis zum nächsten Gottesdienst vom
Staatssicherheitsdienst "abgeholt" werde. Am Sonntag darauf blieb
die Kirche leer. Stübgen aber wurde nicht verhaftet, und die
Leute strömten bald wieder in Scharen in das Haus Gottes.
"Damit hatte ich eine politische Bewegung organisiert." Er
veranstaltete sogenannte runde Tische und wurde zum De-facto-Bürgermeister.
In den Bundestag
Mit dem Mauerfall überschlugen sich die Ereignisse.
Stübgen trat in die CDU ein und kandidierte für den
Kreistag. Dann flog in seinem Wahlkreis der Volkskammerkandidat als
informeller Stasi-Mitarbeiter
auf und Stübgen wurde angefragt. "So eine Frage stellt sich
nur einmal im Leben." Gegen die anderen Anwärter setzte er
sich durch, kandidierte und wurde am 2. Dezember 1990 in den 12.
Deutschen Bundestag gewählt.
Von der Predigt zur Rede
Vor allem bei der Volkskammerwahl im März 1990 wurden viele
Pfarrer gewählt. "Als Rückzugsraum vor dem DDR-Regime genoss die
Kirche nach der Wende einen Vertrauensvorschuss", so Stübgen.
Seine ersten Schritte auf dem parlamentarischen Boden fielen ihm
leicht, mit demokratischen Strukturen war er durch die Evangelische
Kirche vertraut. Seine Erfahrung als Prediger half bei Plenarreden.
"Der Politiker lebt vom Wort, ähnlich wie der
Pfarrer."
Hirte im Wahlkreis
Ins Pfarramt wird Stübgen erst einmal nicht zurückkehren. Aber eine Art Hirte ist er in seinem Wahlkreis trotzdem: So hat Michael Stübgen für die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger in seinem Wahlkreis stets ein offenes Ohr, hört sich die Sorgen und Nöte an und versucht, hier und dort zu helfen.