Meilenstein auf dem Weg zur Gleichberechtigung
Vor 90 Jahren erließ der Rat der Volksbeauftragten, der nach dem Sturz Kaiser Wilhelms II. und dem Ausruf der Republik im November 1918 die Macht übernommen hatte, ein neues Wahlrecht. Danach war es Frauen ab sofort gestattet, an den Wahlen zum Deutschen Reichstag teilzunehmen - ein Recht, für das Frauenorganisationen jahrzehntelang gekämpft hatten.
"Wahlberechtigt sind alle deutschen Männer und Frauen, die am Wahltag das 20. Lebensjahr vollendet haben.“ Was in Paragraf 2 des Reichswahlgesetzes vom 30. November 1918 wie beiläufig verkündet wurde, war nichts weniger als eine Sensation: Zum ersten Mal durften Frauen an den Wahlen zum Deutschen Reichstag teilnehmen und sich auch selbst um einen Sitz in der Nationalversammlung bewerben.
Wahlbeteiligung von 82 Prozent
Und sie machten von ihrem neuen aktiven und passiven Wahlrecht in reichem Maß Gebrauch: An den Reichstagswahlen am 19. Januar 1919 nahmen 82 Prozent aller wahlberechtigten Frauen teil, 41 der insgesamt 423 Reichstagssitze wurden von weiblichen Abgeordneten besetzt - eine Quote von fast zehn Prozent, die erst wieder im Bundestag von 1983 erreicht wurde.
Unter den Frauen des ersten Reichstags der Weimarer Republik befanden sich prominente Vertreterinnen des linken Parteienspektrums - etwa die Sozialdemokratin Marie Juchacz, die am 19. Januar 1919 als erste Frau im Reichstag sprach, oder Luise Zietz, die für die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USDP) ins Parlament einzog.
Aber auch die bürgerlichen Parteien - Zentrum, Deutsche Volkspartei (DVP), Deutsche Demokratische Partei (DDP) und Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP) - waren durch weibliche Abgeordnete vertreten.
Langer Kampf um das Wahlrecht
Vorausgegangen war ein jahrzehntelanger Kampf um das Frauenwahlrecht. Bereits 1843 konstatierte die Dichterin und Journalistin Louise Otto-Peters, die als Begründerin der deutschen Frauenbewegung gilt: "Die Teilnahme der Frauen an den Interessen des Staates ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht.“
Anfang des 20. Jahrhunderts gründeten sich dann verschiedene Frauenstimmrechtsvereine. 1904 wurde in Berlin der "Weltbund für das Frauenstimmrecht“ ins Leben gerufen. Von den politischen Parteien hingegen erhob lediglich die SPD die Forderung nach einem Frauenwahlrecht - und zwar erstmals 1891.
Gespaltene Frauenbewegung
Dass es dann doch noch über ein Vierteljahrhundert dauern sollte, um diese Forderung durchzusetzen, hatte viele Gründe. Einer davon war die Tatsache, dass die Frauenbewegung in ein bürgerliches und ein proletarisches Lager zerfiel. Letzteres setzte sich für ein allgemeines Wahlrecht ein, während viele bürgerliche Frauen die Forderung nach einem Zensuswahlrecht auch für ihre Geschlechtsgenossinnen erhoben.
Erst die Umbruchsituation nach dem Ersten Weltkrieg und der Abdankung Kaiser Wilhelms II. schufen dann die historischen Voraussetzungen für die längst überfällige Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland. 1919 wurde das Frauenwahlrecht in der Weimarer Verfassung verankert.
Von den Nationalsozialisten abgeschafft
Viel Zeit blieb den Frauen allerdings nicht, um Politik mitzugestalten. Kaum waren die Nationalsozialisten an der Macht, schafften sie das passive Wahlrecht für Frauen wieder ab. Erst in der Bundesrepublik Deutschland wurde die Gleichberechtigung im Grundgesetz festgeschrieben. Heute gilt das aktive und passive Frauenwahlrecht als Selbstverständlichkeit.
Doch längst nicht für alle Abgeordneten ist das Ziel echter Gleichberechtigung im Bundestag bereits erreicht. So würdigte Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) kürzlich zwar die Tatsache, dass sich seit der Einführung des Frauenwahlrechts "das Zahlenverhältnis von Männern und Frauen über 90 Jahre hinweg verbessert“ habe. Zugleich wies sie jedoch darauf hin, dass der heutige Frauenanteil von 32,1 Prozent im Bundestag "nicht genug“ sei. Schließlich sei noch immer nicht mindestens jeder zweite Abgeordnetensitz von einer Frau besetzt. "So sollte es aber sein“, betonte die Politikerin.