Entscheidung für die Kunst
Es war nicht das erste Mal, dass ein Souverän über die Freiheit der Kunst befand. Aber am 25. Februar 1994, jenem Freitag vor genau 15 Jahren, war es nicht Louis der Sonnenkönig, nicht Karl der Große, nicht August der Starke und auch nicht der Alte Fritz. Sondern es waren 531 gewählte Bundestagsabgeordnete, die über die Verhüllung des Reichstagsgebäudes durch den Künstler Christo entschieden.
Im alten Bonner Wasserwerk, dem provisorischen Plenum des
Bundestages, stritten am 25. Februar 1994 mehr als 531 Frauen und
Männer der CDU/CSU, SPD, FDP, PDS/Linke Liste und von
Bündnis 90/Die Grünen darüber, ob im rund 600
Kilometer entfernten Berlin der Reichstag, ein lange Zeit kaum
benutztes, dafür politisch um so bedeutenderes Bauwerk
"befristet umgestaltet" werden darf. Das Besondere an der
Kontroverse war, dass sich nicht Fraktionen als Gegner und
Befürworter gegenüberstanden, sondern einzelne
Abgeordnete, unabhängig von ihrer
Fraktionszugehörigkeit.
Heiteres Kunsterlebnis
Das wirklich Besondere aber, das den Abgeordneten – 23 Jahre nach der ersten Skizze Christos – mit ihrer Abstimmung zum Antrag 12/6767 gelang, war ein überraschend heiteres und friedliches Kunsterlebnis für Millionen von Menschen.
Ein gutes Jahr später, 14 Tage lang im Juni 1995, flanierten täglich bis zu sechshunderttausend Besucher mit strahlenden Augen um den fast utopisch anmutenden, silbrig transparent verhüllten Monolithen. Wer – wie zuvor Wolfgang Schäuble – befürcht hatte, es werde bei einer solchen Ansammlung von Menschen verschiedener Sozialisation und Kultur Konflikte geben, Krawalle, Auseinandersetzungen, Randale – der sah sich auf das Wunderbarste widerlegt.
Mehr als fünf Millionen Besucher
Angesichts einer unvorhersehbaren Rekordzahl von mehr als fünf Millionen Besuchern in nur zwei Wochen waren selbst notorische Optimisten begeistert, wie friedlich, gelassen und harmonisch die gleichzeitige Begegnung von einigen Hunderttausend Menschen mit Kunst sein kann.
Gewusst hatte das während der entscheidenden Debatte vor 15
Jahren niemand. Keiner der 223 Parlamentarier, die – wie
Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble oder Herrmann Otto Solms
– gegen eine Verhüllung des Reichstages gestimmt hatten.
Und auch nicht Rita Süssmuth, Norbert Lammert, Peter Struck,
Peter Conradi und Dietmar Keller oder Konrad Weiß, die zu den
292 Befürwortern von Christos Projekt zählten
(Enthaltungen gab es neun, eine Stimme war ungültig).
Zufriedenes Künstlerpaar
Selbst das nach "Running Fence" und der verhüllten Brücke am Quai d’Orsay bereits erfolgsverwöhnte und eventerprobte Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude war wohl mehr als zufrieden: Selten hat ein zeitgenössisches Kunstwerk mehr Menschen berührt und bewegt als der verhüllte Reichstag in Berlin.
Und absolut untadelig war auch ihre Finanzierung: Für die
Aufwendungen von der ersten Skizze 1972 bis zur Realisierung im
Juni 1994 hatten Christo und seine Frau insgesamt geschätzte
zehn Millionen Mark aufgebracht. Millionen, die sie während
und nach dem Event mit dem Verkauf von Skizzen, Modellen,
signierten Kunstdrucken und unzähligen quadratischen
Originalproben der hunderttausend Quadratmeter großen,
silbern schimmernden Spezialverhüllung zurückgezahlt
haben.
"Wandel sichtbar gemacht"
Mit seiner Kunst hat der Exil-Bulgare und Wahl-New Yorker Christo als direkt Betroffener des Kalten Krieges flüchtige Kunst unvergänglich vermittelt und die Menschen an einer Nahtstelle des einstigen Ost-West-Konflikts in heiterer Freude zusammengeführt. "Sie wissen ja", sagte Christo, "bis 1989 war der Reichstag ein Mausoleum, ein Gebäude wie im Dornröschenschlaf. Den Reichstag nun in dieser Übergangsphase zu verhüllen, ist eine aufregende Sache. Wir können diesen Wandel sichtbar machen."